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Rezension: Simone de Beauvoir – Die Unzertrennlichen (2021)

„Die Wärme des Alkohols und meine Entrüstung flösten mir Mut ein; ich hatte Lust, Andrée diese Dinge zu sagen, die man nur in Büchern sagt.“ Sylvie und Andrée lernen sich als neunjährige Kinder kennen, Andrée ist die Neue in der Klasse. Sie begegnen sich zum ersten Mal beim Verlassen des Klassenzimmers, wo Sylvie der Lehrerin ganz selbstverständlich erklärt, dass sie Literatur lieber möge als die Mathematik. Andrée ist fasziniert von ihrer neuen Freundin, die sie für viel selbstbewusster und klüger hält als sich selbst. Sylvie und Andrée werden zusammen erwachsen, teilen Erfahrungen wie den ersten Kuss oder das Zweifeln am katholischen Glauben miteinander. Doch zwischen den beiden bleibt auch vieles unausgesprochen; lange hadert Andrée mit sich, Sylvie zu sagen, was sie für sie empfindet. Vielleicht zu lange?
Obwohl Simone de Beauvoir den Roman bereits 1954 fertiggestellt hatte, erfolgte die Veröffentlichung erst 70 Jahre später, auf Veranlassung ihrer Adoptivtochter. De Beauvoir legt mit „Die Unzertrennlichen“ nicht nur einen einfühlsamen Coming-of-Age-Roman vor; sie schafft es, die gesellschaftliche Stimmung der letzten Kriegstage sowie der Nachkriegsjahre in Paris einzufangen und flechtet in die Gespräche zwischen den beiden Protagonistinnen Themen ein, die ihr ganzes Leben und Arbeiten als Philosophin bestimmen sollten: Freiheit, gesellschaftliche Zwänge und das Dasein als Frau.
Nicht wegzudenken sind die eindeutigen autobiographischen Züge, die de Beauvoir in ihrem Roman verarbeitet: In Andrée spiegeln sich viele Eigenschaften wider, die de Beauvoir sich selbst in ihren Tagebüchern zuschreibt; Sylvie hingegen ist eine Hommage an ihre Jugendfreundin Zaza, die früh an einer Encephalitis verstarb. Obwohl im Roman nicht explizit ausformuliert, wird schnell deutlich, dass das Buch auch de Beauvoirs Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Sexualität ist, die nicht ausschließlich heterosexueller Natur war.
„Die Unzertrennlichen“ ist ein Buch, das sich so zart liest, dass es manchmal fast wehtut. Und dennoch will man es nicht aus der Hand legen.

„Die Unzertrennlichen“ Rowohlt, deutsche Erstausgabe von 2021, 22