Koranforscher aus aller Welt streiten: Darf der Koran von Muslimen historisch-kritisch gelesen werden?
Auftakt des Roundtable Qurʾanic Studies
„Gläubige begreifen die Religion im Allgemeinen als etwas Heiliges oder Sakrales, etwas stets Gleichbleibendes, man kann mit ihnen nicht über den Wandel oder die Entwicklung religiösen Wissens sprechen. Sie klammern sich an die Idee der Unveränderlichkeit.“
Zitiert nach: BENZINE, Rachid: Islam und Moderne. Die neuen Denker, Berlin 2004, S. 56.
Dieses Zitat stammt von dem iranischen Philosophen Abdolkarim Soroush und es drückt sehr deutlich das Dilemma aus, in dem die islamische Koranexegese seit mehreren Jahrhunderten, aber auch die muslimischen Gemeinden sowie die Mehrheitsgesellschaft stecken: die Stagnation des Textverständnisses des Koran und damit einhergehend eine rein literalistische Lesart des heiliges Buches der Muslime. Der Koran wird in der Regel als das ewige Wort Gottes erachtet, dass Gott monologisch, also unabhängig von einem bestimmten historischen Kontext verkündet habe und somit eine Ansammlung an ahistorischen Anweisungen beinhalte. Dadurch wird der Text aus der Historie gerissen und verliert jeglichen kontextuellen Bezug. Die Problematik, die sich daraus ergibt, ist, dass keine Aktualisierung des Textverständnisses stattfindet, die den Text in die Lebenswirklichkeit der Gläubigen holt, sondern oftmals eine Diskrepanz zwischen Textverständnis und Lebenswirklichkeit entsteht, die für viele Konflikte sorgt. Ein aktuelles Beispiel stellt die Debatte rund um die Entscheidung des tunesischen Kabinetts dar, den Frauen nun den gleichen Anteil bezüglich des Erbes wie den Männern zu gewähren, also abweichend vom Wortlaut des Koran, der den Frauen lediglich die Hälfte zuspricht (vgl. Koran 4:11). Viele islamische Gelehrte, besonders aus der ägyptischen al-Azhar haben ihre Empörung darüber zum Ausdruck gebracht und beharren auf dem Wortlaut des Koran und seinen in ihren Augen zeitlosen Anordnungen. Jede Abweichung vom Wortlaut des Koran sei eine Verfälschung von Gottes Wort.
Nun haben bereits im 20. Jahrhundert eine ganze Reihe muslimischer Denker, wie Muhammad Khalafallah, Fazlur Rahman, Nasr Hamed Abu Zaid und Muhammad Arkoun, auf die Problematik einer literalistischen Lesart hingewiesen und für ein neues Verständnis sowie einen historisch-kritischen Zugang zum Text plädiert. So sei der Koran zwar dem Propheten Mohammed über waḥy (dt. Inspiration) eingegeben worden, allerdings sei die sprachliche Form des Textes in der Zeit und in menschlicher Form von Gott erschaffen worden. Die Verkündigung des Koran ist in einem Zeitraum von ca. 23 Jahren durch den Propheten mündlich an seine Zeitgenossen erfolgt, wobei das Lebensumfeld des Propheten, also die kulturelle und historische Dimension der Sprache sowie die Erlebnisse und Erfahrungen des Propheten und seiner Zeitgenossen konstitutiv für die Entstehung des Textes waren und sich in ihm widerspiegeln. Die Offenbarung erhält damit nach dem Koranwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid einen dialogischen und kommunikativen Charakter. Diese Dialogizität des Koran zeigt sich zum einen an seinem polyphonen Charakter, zum anderen an den im Koran enthaltenen gesellschaftlichen, theologischen und politischen Debatten sowie dem Anknüpfen an das kollektive Bewusstsein der Zeitgenossen des Propheten. Daher beschreibt ihn Abu Zaid auch als „Gottes Menschenwort“. Da der Koran somit unweigerlich an den historischen Kontext gebunden ist und zudem ein literarischer Text ist, scheint ein historisch-kritischer Zugang zum Text nur logisch.
Vor diesem Hintergrund hat der Münsteraner Theologe Prof. Dr. Mouhanad Khorchide das Projekt einer historisch-theologischen Korankommentierung am Zentrum für Islamische Theologie ins Leben gerufen, welches das Ziel verfolgt, einen deutschsprachigen thematischen Korankommentar in 17 Bänden zu erstellen. Gerade ist der erste Band, der die hermeneutische Grundlage der Kommentierung darstellt, mit dem Titel „Gottes Offenbarung in Menschenwort – Der Koran im Licht der Barmherzigkeit“ (KHORCHIDE, Mouhanad: Gottes Offenbarung in Menschenwort – Der Koran im Licht der Barmherzigkeit. Freiburg i. Br. 2018) erschienen. Die Kombination der historischen und theologischen Lesart ergibt sich dabei aus der Überlegung, den Text nicht nur historisch zu verorten und ihn mit den entsprechenden Methoden zu untersuchen, sondern den Koran auch theologisch als Selbstoffenbarung Gottes, im Sinne der Gegenwart Gottes und somit seine Involviertheit in der Geschichte zu verstehen. Diese Involviertheit Gottes in der Geschichte erklärt Khorchide mit der Offenbarung der liebenden Barmherzigkeit Gottes, wobei es nach diesem Zugang Aufgabe des Exegeten sei, im ersten Schritt das Zeugnis dieser liebenden Barmherzigkeit Gottes in der Geschichte der Offenbarung aufzudecken und danach zu fragen, wo sie konkret Wirklichkeit wird. In einem zweiten Schritt gehe es darum, die heutigen Rezipienten des Koran für die Begegnung mit dem Koran als Begegnung mit der liebenden Barmherzigkeit Gottes zu sensibilisieren. Auf diese Weise solle ihnen die Möglichkeit eröffnet werden, die liebende Barmherzigkeit Gottes in dieser Begegnung für sich neu zu entdecken, um sie dann in das eigene Leben zu tragen und zu einer erfahrbaren Wirklichkeit zu machen. Damit bliebe der Koran auch für seine heutigen Rezipienten als Ereignis der Begegnung mit Gottes liebender Barmherzigkeit lebendig.
Nun hat sich im Rahmen dieses Projekts gezeigt, dass besonders in Deutschland der Diskurs für einen historisch-kritischen Zugang zum Koran durch die anderen Theologien, aber auch die explizite Rezeption von muslimischen Gelehrten wie Soroush oder Shabestari, welche als Vertreter eines modernen Koran- und Islamverständnisses gelten, befruchtet wird, jedoch in der islamischen Welt nach wie vor die literalistische Lesart rezipiert wird und starke Vorbehalte gegenüber diesen progressiven Stimmen und einer historischen Verortung des Textes bestehen. Im Westen werden daher eher die progressiven Stimmen des Islam zu Tagungen und Konferenzen eingeladen, vornehmlich weil deren Positionen sich besser in den akademischen Rahmen bzw. in die moderne Textforschung einpassen lassen – während hingegen es in den islamischen Ländern nicht unbedingt die progressiven Stimmen sind, die den Diskurs bestimmen, sondern eher die konservativen.
Aus wissenschaftlicher Perspektive, die sich für verschiedene innerislamische Korandiskurse interessiert, ist eine Plattform des Dialogs zwischen diesen beiden Lagern, den konservativen und den progressiven Koranforscherinnen und -forschern der Gegenwart, ein Desiderat. Diese soll erlauben, die jeweiligen theologischen Grundannahmen, die Anwendbarkeit von unterschiedlichen Methoden, theologische und philosophische Postulate etc., auf „neutralem Gebiet“ und auf Augenhöhe zu diskutieren. Daher entstand die Idee, eine Forschungsplattform mit dem Titel „Roundtable Qurʾanic Studies“ gemeinsam mit dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der WWU Münster zu gründen, innerhalb derer sowohl konservative bzw. traditionalistische als auch progressive Forscher ihre Ideen, Ansätze, Methoden und Ergebnisse bezüglich ihrer unterschiedlichen Zugänge zum Koran und seiner Bedeutung in Geschichte und Gegenwart präsentieren können, um so eine hermeneutische Verflechtung zu gewährleisten. So fand unter der Leitung von Prof. Dr. Mouhanad Khorchide, Dr. Dina El Omari und Catharina Rachik gemeinsam mit dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster vom 2. bis zum 4. November 2018 die internationale Tagung „Understandings of the Qurʾan – Muslim Researchers in Dialogue“ in Münster als Auftaktveranstaltung für diesen jährlichen Roundtable statt. Die Tagung brachte eine Vielzahl muslimischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus den Vereinigten Staaten von Amerika, aus Europa (Deutschland, England, Frankreich, Norwegen und Belgien) und aus den verschiedenen Ländern der islamischen Welt (Marokko, Tunesien, Ägypten, Libanon, Syrien, Türkei, Pakistan, Indonesien und Malaysia) sowie aus Südafrika miteinander ins Gespräch. Die Tagung war in insgesamt sieben thematische Panels unterteilt: (1) Reading the Qurʾan in Modern Times, (2) The Qurʾan between Written and Oral Culture, (3) Fundamentals of Tafsīr, (4) Exegetical Methods in Classical Islamic History, (5) Exegetical Methods, (6) Bible, Qurʾan and Methods of Islamic Studies, (7) Women in the Qurʾan. Während nun die konservativen Vertreter einer literalistischen Lesart des Koran deutlich in der Unterzahl waren, da eine Vielzahl von ihnen der Teilnahme vorerst skeptisch gegenüber stand, zeigte sich eine deutliche Dominanz der muslimischen Vertreter, die den Koran historisch kontextualisieren. Eine klare Trennlinie zwischen den beiden Lesarten und ihren Vertretern wurde im Laufe der Tagung deutlich.
Die Dominanz der progressiven Stimmen – aus aller Welt – ist dabei durchaus erfreulich. Denn bis vor einigen Jahren war es in islamischen Ländern undenkbar, überhaupt in diese progressive Richtung zu forschen, während sich heute eine wachsende Selbstverständlichkeit unter vielen muslimischen Gelehrten für ein historisches Verständnis des Koran zeigt. Ein beeindruckendes Beispiel hierfür stellt die Forschergruppe aus Tunesien dar, die am bekannten Projekt „Der
Koran-Text und seine Varianten“ von Abdelmajid Charfi arbeiten. Die Forschenden gewährten beim Roundtable Einblicke in ihren historisch-kritischen Umgang mit dem Koran. Die Ergebnisse des Projekts sind 2016 unter dem Titel al-Muṣḥaf wa-qirāʾātuhu in fünf Bänden erschienen (AŠ-ŠARFĪ, ʿAbd al-Maǧīd (Hg.): Al-muṣḥaf wa-qirāʾātuhu. Beirut: al-Ḥamrāʾ 2016). In dem Werk werden zu jedem einzelnen Vers die möglichen Lesevarianten angeführt, kanonische sowie außerkanonische, sowie Varianten aus den außerkanonischen Koran-Manuskripten angeführt. Dabei zeigt sich, dass es zu fast allen der 114 Suren Varianten gibt.
Gleichzeitig stieß das von Prof. Khorchide vorgestellte Koranprojekt auf großes Interesse und gab neue Impulse für die internationalen Forscher. Für die Wiederholung des Formats ist es allerdings notwendig, deutlich mehr konservative Stimmen einzubeziehen. Damit könnte es zu einem intensiven Austausch gerade dort kommen, wo sich progressive Stimmen bisher nicht den Weg bahnen konnten, um so möglicherweise verhärtete Denkmuster aufbrechen zu können oder zumindest Impulse für ein neues Textverständnis zu geben.
Da nun auch der Nachwuchs bei diesen Veränderungen eine große Rolle spielt, organisierte das ZIT im Anschluss an die Tagung einen zweitägigen Workshop für internationale Nachwuchswissenschaftler. Daran haben zahlreiche junge Forscher aus der ganzen Welt teilgenommen, die nicht nur äußerst progressive Ansätze vertraten, sondern in ihren eigenen Ländern aufgrund von Restriktionen oftmals nur eingeschränkt arbeiten können. Auch hier hat sich deutlich gezeigt: Die historische Verortung ist aus einer zeitgenössischen Koranexegese nicht mehr wegzudenken. Der nächste Roundtable wird voraussichtlich im Spätherbst dieses Jahres stattfinden.
Von Dr. Dina El Omari, Zentrum für Islamische Theologie, Universität Münster