Raus aufs Land! Stadtflucht als Krisenphänomen
Von Literaturwissenschaftlerin PD Dr. Pia Claudia Doering (Romanistik)
Die Corona-Krise erscheint in erster Linie als eine Krise der Stadt: Bilder aus der Elf-Millionen-Metropole Wuhan, später dann aus Mailand und New York brannten sich ins Gedächtnis ein. Viele Städter ergriffen die Flucht und zogen aufs Land. In Paris wurden Polizeisperren errichtet, um die Bewohner am Verlassen der Stadt zu hindern. Und auch in Deutschland, wo Wochenendhäuser auf dem Land weniger verbreitet sind als in Frankreich, haben Bundesländer wie Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern Zweitwohnungsbesitzern die Anreise zeitweilig verboten.
Bei Seuchengefahr die Stadt zu verlassen, ist ein Phänomen, das sich bereits im Mittelalter beobachten lässt. Als in Europa im 14. Jahrhundert die Pest ausbrach, riet die medizinische Fakultät der Universität Paris den Menschen zur Flucht. Sie griff dazu in ihrer im Oktober 1348 auf Geheiß von König Philipp VI. verfassten Stellungnahme auf einen Satz des antiken Mediziners Galen zurück: „Cito longe fugas et tarde redeas.“ („Fliehe schnell weit weg und kehre erst spät wieder zurück.“). Eine solche Fluchtempfehlung erwies sich jedoch in gesellschaftspolitischer und moralischer Hinsicht als problematisch. So sah sich etwa die Stadt Venedig gezwungen, ihre städtischen Beamten, Schreiber, Notare und Ärzte zur Rückkehr aufzufordern, um die Ordnung und medizinische Versorgung aufrecht erhalten zu können. Guy de Chauliac, Leibarzt des Papstes in Avignon und einer der bedeutendsten Mediziner seiner Zeit, beschreibt in seiner Chirurgia magna (1363) seinen aus medizinischer Sicht durchaus vernünftigten Wunsch zu fliehen, dessen Erfüllung ihm die ärztliche Ethik und die Furcht, durch deren Verletzung Schande auf sich zu ziehen, jedoch nicht gestatteten. Der medizinische Rat zur Stadtflucht findet auch Eingang in die berühmteste literarische Pestdarstellung des Mittelalters: In Boccaccios Decameron (um 1350) entschließen sich zehn junge Leute, das von der Pest schwer getroffene Florenz zu verlassen, auf ihren Landsitzen im contado, also im Umland der Stadt, Zuflucht zu suchen und die Zeit in der schönen Umgebung mit dem Erzählen von Novellen zu verbringen. Dass das Verlassen der Stadt als moralisch fragwürdig erscheinen könnte, wird im Decameron daran deutlich, dass die Erzählerinnen und Erzähler einen nicht geringen Aufwand betreiben, um ihre Entscheidung zu rechtfertigen. Sie schildern den von der Pest hervorgerufenen Ordnungsverlust und Sittenverfall in der Stadt und die Gewalt, die insbesondere Frauen zu befürchten hätten. Da ihre Verwandten bereits alle gestorben seien, trügen sie nur noch die Verantwortung für das eigene Leben, das zu erhalten das Naturrecht ihnen gebiete.
Dass die Flucht aufs Land auch heute Kritik hervorrufen kann, haben jüngst die beiden französischen Schriftstellerinnen Leïla Slimani und Marie Darrieussecq erfahren müssen. In ihren während der Ausgangssperre in den Zeitungen Le monde bzw. Le point veröffentlichten ‚Quarantäne-Tagebüchern‘ schilderten sie das Leben in ihren Landhäusern in idyllischen Farben. Die heftigen Reaktionen darauf – Slimani wurde mit Marie-Antoinette verglichen, die sich im Garten von Versailles als Bäuerin kostümierte – entfachten eine Debatte über das Verhältnis ökonomischer Privilegien und Möglichkeiten der Krisenbewältigung.