„Das 21. Jahrhundert kennt keine positiven Utopien“
Forscher untersuchen Zukunftsvisionen von der Antike bis heute – Ringvorlesung des Exzellenzclusters über Apokalypse und Utopie ab 14. Oktober
Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 2. Oktober 2014
Das 21. Jahrhundert kennt nach Einschätzung von Kulturwissenschaftlern in Literatur, Kunst und Politik keine positiven Gesellschaftsutopien mehr. „Die Herausforderungen der Zukunft wie Klimawandel und Digitalisierung werden vielmehr oftmals in apokalyptischer Sprache beschrieben und rhetorisch mit dem Weltuntergang verbunden“, erläutert Literaturwissenschaftler Dr. Christian Sieg vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster. „Angesichts von Wirtschaftskrisen, Kriegen und Umweltkatastrophen sehen wir der Zukunft seit Jahrzehnten skeptisch entgegen.“ Positive Zukunftsvisionen seien nicht sehr zahlreich. „Die wenigsten Menschen können den utopischen Meistererzählungen des vorigen Jahrhunderts wie dem Sozialismus oder dem Glauben an Fortschritt durch Technik noch folgen.“ Der Forscher kündigte die nächste Ringvorlesung des Clusters zu „Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“ an.
Die öffentliche Reihe, die das Habilitandenkolleg des Exzellenzclusters organisiert, beginnt am 14. Oktober. Sie widmet sich der Geschichte apokalyptischen und utopischen Denkens von der Antike bis heute. Die Themen reichen von prophetischen Texten aus dem antiken Ägypten über geschichtsphilosophische Zukunftsentwürfe und Richard Wagners „Kunstwerk der Zukunft“ bis zum utopischen Frauenbild spanischer Faschistinnen. Auch grüne Utopien der Gegenwart und Kino-Erzählungen wie „Avatar“ und „Cloud Atlas“ werden unter die Lupe genommen. Die Vorträge sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses, Domplatz 20-22, zu hören.
Unbekannte Insel Utopia
„Die Welt ist durch die Globalisierung so eng zusammengerückt, dass es heute schwer fällt, sich noch einen unbekannten Ort ‚Utopia‘ als Projektionsfläche für eine ideale Zukunft vorzustellen“, so Christian Sieg. „Wünsche werden allenfalls mit einer Besiedelung des fernen Mars verbunden. Große, weltumfassende Utopien trauen wir uns nicht mehr zu. Die Vorstellung, alles anders und besser machen zu können, hat auch aufgrund unserer historischen Kenntnisse über Probleme beim Aufbau idealer Gesellschaftssysteme an Plausibilität verloren.“ So suchten Menschen heute allenfalls nach Zukunftslösungen für Teilbereiche wie Umweltschutz oder Menschenrechte.
Als „Utopia“ („Nicht-Ort“) hatte der englische Staatsmann und Autor Thomas Morus (1478-1535) eine fiktive Insel mit idealen Gesellschaftsverhältnissen beschrieben und damit Kritik an den Verhältnissen im damaligen Europa geübt, wie der Experte erläutert. „Utopien dienten seit Morus als Gegenentwurf zur zeitgenössischen Gesellschaft.“ Heute seien utopische Visionen allenfalls als Märchen denkbar, an die sich Filme wie „Avatar“ anlehnten. „Die 14 Vorträge der Ringvorlesung werden zeigen, dass Apokalypse und Utopie zwei historisch bedeutsame Zukunftsvisionen sind, deren Bilder und Erzählungen bis heute fortwirken.“ In der Reihe kommen Vertreter der Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaft, Germanistik, Philosophie, Theologie, Archäologie, Ägyptologie und Musikwissenschaft zu Wort.
„Die Menschen haben schon immer über die Zukunft nachgedacht und bedienten sich dabei verschiedener Medien“, so Christian Sieg. „Neben den mündlichen Visionsbericht traten Literatur, Musik, Film und Architektur.“ Ein frühes Beispiel seien die Visionsberichte im Neuen Testament. „Die Apokalypse des Johannes beschreibt eine Erlösungsvorstellung, die die unterdrückten Christen im Römischen Reich trösten sollte. Der Weltuntergang wird hier zum Anfang eines neuen, besseren Zeitalters, dem Himmlischen Jerusalem.“ Diese Vorstellung schlug sich auch vielfach in der Architektur nieder, wie der Wissenschaftler an einem Beispiel aus der Ringvorlesung darlegt: „In der Frühen Neuzeit orientierte sich die Stadtplanung in einigen Fällen an Beschreibungen des Himmlischen Jerusalems. So wurde aus Städten ein sakraler Raum.“
Auf die apokalyptischen Motive der Bibel griff auch die Literatur bis in die Moderne zurück, wie der Germanist darlegt. Die stereotype Wendung „Ich sah“ des Visionsberichts finde sich etwa in Günter Grass‘ „Die Rättin“. Die für biblische Propheten typische emotionale Reaktion auf Träume und Vorhersagen werde in Christa Wolfs „Kassandra“ aufgegriffen. „Die Neuzeit verwendet den Begriff der ‚Apokalypse‘ allerdings oftmals anders als die Bibel. Er bezieht sich nun auf kein Erlösungsversprechen mehr, sondern wird mit dem endgültigen Weltuntergang gleichgesetzt. Allenfalls kommt es zu einem rudimentären postapokalyptischen Leben, wie es viele Science-Fiction-Bücher und -Filme wie ‚The Day After‘ (1983), ‚I Am Legend‘ (2007) oder ‚The Road‘ (2009) darstellen.“
„Ebenso vielfältig wie die Medien, die Zukunftsentwürfe transportierten, sind ihre politischen und religiösen Funktionen“, unterstreicht der Kulturwissenschaftler. Viele Utopien des 20. Jahrhunderts dienten demnach als Warnungen vor Gefahr oder als Gegenentwurf zu einer Gegenwart, die Menschen verändern wollten. Schließlich dienten Zukunftsvisionen in der Geschichte auch der Herrschaftssicherung, wie der erste Kreuzzug, der als biblischer Endkampf legitimiert wurde. Auch der NS-Propagandabegriff „1000-jähriges Reich“ stehe in dieser Tradition apokalyptischer Vorstellungen. „Schließlich dienten Zukunftsentwürfe auch zur religiösen Artikulation von Jenseitsvorstellungen, wie jene Visionen, die sich auf antiken Grabporträts niederschlugen. Anhand solcher Beispiele wird die Ringvorlesung veranschaulichen, wie religiöse und politische Elemente in Zukunftsvisionen verwoben sind.“ (vvm/ska)
Programm
Wintersemester 2014/2015
dienstags 18.15 bis 19.45 Uhr
Hörsaal F2 im Fürstenberghaus
Domplatz 20-22
48143 Münster