Anhand des zweiten Abverses der siebten Strophe des ›Kürenbergers‹ lernen Sie nun ein neues metrisches Phänomen, die schwebende Hebung, kennen.
Lesen Sie sich bitte den folgenden Vers laut vor:
2 er vuorte an sînem vuoze sîdîne riemen,
Zur Unterstützung hören Sie hier einen geschulten Sprecher:
Erinnern wir uns an den entsprechenden Vers der vorherigen Strophe, so sind der Strophenformel zufolge für den vorliegenden Abvers drei Hebungen anzunehmen. Mit einer klingenden Kadenz sind im Endwort 'riemen' bereits zwei Hebungen verteilt; doch wie soll dann mit dem Wort 'sîdîne' umgegangen werden?
Die formal metrische Betonung nach dem alternierenden Prinzip würde die Silbe 'sî-' in den Auftakt bringen und der Silbe '-dî-' die erste Hebung verleihen. Diese Betonung aber verstieße gegen die oberste Regel der deutschen Verskunst: gegen die Übereinstimmung von metrischer Betonung mit der natürlichen Wortbetonung. Auf der anderen Seite kann man bei dem Wort 'sîdîne' weder eine gespaltene Hebung annehmen (denn die Hebungssilbe 'sî-' ist lang) noch eine gespaltene Senkung (denn die erste Senkungssilbe 'dî-' ist ebenfalls lang). Diese Diskrepanz zwischen der formal metrischen Betonung und der natürlichen Wortbetonung lässt sich nur dadurch beseitigen, dass man den ersten Akzent gleichmäßig auf die ersten beiden Silben verteilt: man spricht dann von schwebender Betonung.
Das Zeichen für die schwebende Betonung ist eine Tilde über beiden Silben:
o o o p ̰ o p
2 er vuortẹ an sînem vuoze sîdîne riemen,
So sieht die metrische Umschrift für den zweiten Vers aus:
o o o p ̰ o p 2 er vuortẹ an sînem vuoze sîdîne riemen, ̰ r° t r°t r °i°z ^° °r r r° i° z ^°
Analysieren Sie nun die letzten beiden Verse der siebten Strophe.