(A3) Normenbegründung im pluralistischen Staat
Im liberalen Rechtsstaat ist die Begründung von Rechtsnormen an Bedingungen der öffentlichen Rechtfertigung (public justification) gebunden. Der legitime, weltanschaulich neutrale Gesetzgeber, der seine Bürger mit gleicher Rücksicht und gleichem Respekt zu behandeln hat (Ronald Dworkin), muss sich auf Gründe beschränken, die im Prinzip jedermann diskursiv einsichtig gemacht werden können. Hierdurch sind Motive, die auf partikulare Vorstellungen des Guten − etwa religiöser Art − rekurrieren, als Begründungsressourcen für staatlich gesetzte Normen gesperrt, und zwar grundsätzlich auch dann, wenn solche religiösen Gehalte in profane Semantik übersetzt werden. Auf diesem Ordnungsmodell, das in der spätestens im 17. Jahrhundert einsetzenden Trennung der Rechtstheorie von der Theologie gründet, beruht die einzigartige, nicht ersetzbare Fähigkeit des ‚ethisch‘ neutralen, säkularen Staates, eine Gesellschaft freier und gleicher Bürger, die durch unvereinbare religiöse, philosophische und moralische Grundannahmen getrennt sind, in einer gemeinsamen konstitutionellen Ordnung stabil zu halten (John Rawls).
Das rechts- und sozialphilosophische Forschungsprojekt zielt auf eine theoretische Schärfung des Konzepts der public justification und seine Rekonstruktion als zentraler, wenngleich spannungsgeladener normativer Bestandteil des modernen westlichen Rechtsdenkens. Hierzu sollen zum einen die geistesgeschichtlichen Wurzeln dieser Vorstellung bis in das 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden, zum anderen gilt es, die Idee der public justification als Kernbestandteil des Konzepts einer Normativen Moderne zu erweisen. Dieses soll rechts- und moralphilosophisch entwickelt und begründet und zugleich – gerade auch in seiner Entwicklungsdimension – gesellschaftstheoretisch verankert werden. Von hier aus ist dann die Frage zu beantworten, auf welche Ressourcen substantieller und prozeduraler Art der liberale, pluralistische Staat im Prozess der Normenbegründung zurückgreifen kann.
Hieran anschließen soll sich die Untersuchung, wieweit vorhandene Normbestände der deutschen Rechtsordnung dem Grundsatz der public justification genügen. Für diese Frage nach dem Stand der Ausdifferenzierung von Recht (Politik) und Religion (sowie Recht und Ethik) im geltenden Recht und in der Rechtswissenschaft sollen vor allem jüngere Normsetzungsprozesse in Deutschland (sowie in einigen europäischen Nachbarstaaten), insbesondere aus dem Bereich der Biopolitik, analysiert werden. Untersucht wird hier nicht zuletzt, welche religiösen bzw. theologischen Gehalte in gegenwärtigen Rechtsdiskursen noch oder wieder verborgen liegen und wie weit sie einer Umstellung auf säkulare Begründungen zugänglich sind. Mit gesellschaftstheoretischen und rechtssoziologische Mitteln ist sodann der Frage nachzugehen, ob und wenn ja, inwieweit eine in dem dargelegten Sinn säkulare Rechtsordnung in motivationeller Hinsicht auf die vorpolitisch-sittlichen Überzeugungen vorfindlicher religiöser (und ähnlicher) Gemeinschaften angewiesen bleibt.