(A2) Die Kultur der Ambiguität: Eine andere Geschichte des Islam
Die islamische Kultur scheint geradezu das Idealbeispiel einer zur Gänze von religiösen Normen dominierten Kultur zu sein. Allerdings unterscheidet sich das Islamverständnis der Moderne hierin auffällig von dem der klassischen Zeit (d. h. der Vormoderne bis ins 19. Jh.). Während moderne fundamentalistische Richtungen die möglichst vollständige Geltung religiöser Normen in der gesamten Gesellschaft anstreben und dies für die am stärksten islamgemäße Ordnung halten (und hierin von der westlichen öffentlichen Meinung über den Islam bestätigt werden), bietet ein Blick auf die islamische Kultur der Vormoderne ein weitaus komplexeres Bild. Bereits die Gewinnung der Normen aus den autoritativen religiösen Texten zeigt sich als ein diffiziles Verfahren der Disambiguierung, das zahlreiche subjektive Prozesse und rationale Verfahren einschließt. Dass dieses Verfahren zu einem Nebeneinander konkurrierender Normen führte, wurde akzeptiert (vgl. den vielzitierten Prophetenhadith: „Meinungsverschiedenheiten sind eine Gnade für meine Gemeinde“).
Eine solche Ambiguitätstoleranz zeigt sich nicht nur im islamischen Recht, sondern auch in vielen anderen Bereichen der islamischen Wissenschaften (etwa in der Koranexegese und in den Sprachwissenschaften, wo man besonders in der Rhetorik maßgebliche Resultate erzielte), in zahlreichen Gattungen der Literatur, aber auch in der Mentalität der Menschen und in den sozialen Verhältnissen (Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten; Wahrnehmung von Fremdheit; hohe soziale Mobilität). Bezeichnend ist auch die weitgehend konfliktfreie Koexistenz religiöser und säkularer Diskurse in der klassischen islamischen Kultur, die in auffälligem Kontrast zur heute postulierten Untrennbarkeit zwischen Islam und weltlicher Sphäre steht. Unter diesen spezifischen Voraussetzungen blieben dem Islam viele der Krisen des Abendlandes erspart, doch liegt hierin auch eine wichtige Ursache für die aktuellen Konflikte zwischen Islam und westlicher Moderne. Der Zusammenstoß des Islam mit einer Kultur, die eine solche Ambiguitätstoleranz kaum kannte und tendenziell ablehnte, musste zu einer Neuformulierung der Grundlagen des Islams in Form modernitätskonformer Ideologien führen, die sich sowohl in ihrer liberalen pro-westlichen Ausprägung als auch in ihrer islamistischen Variante gleichermaßen durch die weitgehende Ablehnung der eigenen kulturellen Tradition auszeichnen.
Über die Erforschung kultureller Ambiguität in der islamischen Geschichte hinaus soll in interdisziplinärer Arbeit erprobt werden, in wie weit sich die Erforschung von Ambiguitäts(in)toleranz als kulturgeschichtlich relevanter Ansatz etablieren lässt.