(A4) Religion und Biopolitik
Der beschleunigte Fortschritt in den Lebenswissenschaften hat in einem bisher ungekannten Maße auch die menschliche Natur der technischen Intervention erschlossen. Im Zuge dieses „Endes der Natur“ (Anthony Giddens) geraten immer mehr biomedizinische Materien auf die politische Agenda gegenwärtiger Gesellschaften. Denn in der Regel besteht ein tiefgreifender moralisch-ethischer Dissens darüber, ob Techniken wie die Präimplantationsdiagnostik oder das therapeutische Klonen erlaubt oder verboten werden sollen. Zu den gesellschaftlichen Gruppen, die diese Debatten maßgeblich prägen, zählen nicht zuletzt religiöse Organisationen. Sie vertreten dabei vielfach Positionen, die auf die Verteidigung der herkömmlichen Grenzen einer technischen Verfügung über die menschliche Natur zielen. Die Legitimität und die Funktionalität solcher religiöser Interventionen im ‚säkularen’ Staat sind jedoch politisch wie politiktheoretisch (zum Beispiel Ronald Dworkin, John Rawls, Jürgen Habermas) nicht unumstritten.
Auf diesem Hintergrund stellen sich mit Blick auf die Forschungsfelder Normativität und ‚Integrative Verfahren‘ insgesamt vier Fragen:
- Auf welche Weise formulieren religiöse Traditionen und Organisationen ihre bioethischen Positionen, mit welchen Sorten von Gründen machen sie ihre Positionen gegenüber unterschiedlichen Adressatenkreisen im politischen Prozess geltend und mit welchen Mitteln versuchen sie ihre Positionen durchzusetzen?
- In welcher Weise und unter welchen Bedingungen erlangen religiöse Positionen und Argumente Einfluss auf oder Eingang in politische Entscheidungen?
- Welche Faktoren sind bei der Entscheidung über Materien mit tiefgreifendem moralisch-ethischen Dissens für das Konfliktverhalten der Akteure und die Konfliktdynamik des politischen Prozesses verantwortlich?
- Welche politischen Verfahren kommen bei biopolitischen Entscheidungsprozessen zur Anwendung, welchen Grad der Inklusion oder Exklusion weisen sie vor allem mit Blick auf religiöse Akteure auf und welche Effekte haben diese unterschiedlichen Verfahren und die variierenden Akteurszusammensetzungen auf die Ergebnisse, die Konfliktdynamik und die Akzeptanz der Entscheidungen?
Diese Fragen sollen in einer vergleichenden Untersuchung der politischen Regulierung von Präimplantationsdiagnostik sowie therapeutischem und reproduktivem Klonen in ausgewählten OECD-Staaten und Schwellenländern seit den 1980er Jahren beantwortet werden. Die Auswahl der untersuchten Länder soll mit Blick auf die Varianz bzw. Konstanz zentraler religionspolitischer Bedingungskonstellationen wie den dominierenden religiösen Traditionen, dem Ausmaß des religiösen Pluralismus und der institutionellen Regulierung des Verhältnisses von Politik und Religion erfolgen. Methodisch soll das Forschungsvorhaben als fokussierter Vergleich angelegt werden.