Praktiken ‚Kultureller Aneignung‘ durchziehen Epochen und Regionen
Forschung zur Übernahme religiöser Gebäude oder Ideen – Fallbeispiele von der mykenischen Zeit bis in den Pazifischen Raum des 17. Jahrhunderts
Am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ erforschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler „Transkulturelle Verflechtungen und Entflechtungen“. Aktuell befassen sie sich in dem Forschungsfeld auch mit Formen der kulturellen Aneignung in vormodernen Epochen. Auf der internationalen Tagung „Premodern Forms of Cultural Appropriation?“, organisiert von der Judaistin Prof. Dr. Katrin Kogman-Appel, dem Mittelalter-Historiker Prof. Dr. Wolfram Drews und der Mediävistin Franziska Kleybolte, tauschten sich internationale Forscherinnen und Forscher dazu aus. Dabei befassten sich die Vorträge aus der Geschichtswissenschaft, Judaistik, Ägyptologie, Theologie und Kunstgeschichte mit Beispielen potentieller ‚Kultureller Aneignung‘ von der mykenischen Zeit bis in den Pazifischen Raum des 17. Jahrhunderts. Ein Interview mit Franziska Kleybolte:
Was verstehen Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen unter ‚Kultureller Aneignung‘ und wie entsteht sie?
Der Begriff ‚Kulturelle Aneignung‘ tauchte in der Postkolonialismus-Debatte in den 1970er Jahren auf und ist heute ein integraler Bestandteil der Diskussionen über Rassismus, Formen des Kolonialismus sowie der Frage nach der kolonialen Vergangenheit und Wiedergutmachung. Es handelt sich um die Übernahme eines Objektes materieller, aber auch immaterieller Natur wie etwa (religiöse) Gebäude, Historiographie, künstlerische Stilelemente, religiöse Ideen – um nur einige zu nennen. Diese Übernahme findet in einem unausgeglichenen Machtverhältnis, häufig sogar einem Abhängigkeitsverhältnis, statt, bei der sich eine Gruppe ein Objekt einer anderen, als fremd wahrgenommenen Gruppe aneignet.
Durch dieses Abhängigkeitsverhältnis wird die Appropriation als eine bewusst oder unbewusst gewählte Darstellung dieser Ungleichheit, Dominanz, wenn nicht sogar Unterdrückung verstanden. Durch die Aneignung kommt es nicht nur zu einem Besitzwechsel, sondern sie geht auch mit einer Umdeutung und damit einem identitären Wandel des Objektes einher. So kann es zu finanziellem wie auch sozialem Profit für die Appropriierenden kommen und gleichzeitig eine Diffamierung der appropriierten Gruppe bedeuten.
Auf der Tagung zeigte sich, dass sich die Wahrnehmung von Machtverhältnissen entlang unterschiedlicher Achsen entwickeln kann, wobei das nicht immer die tatsächlichen politischen Machtverhältnisse widerspiegeln muss. Eine Gruppe kann sich auch kulturell oder religiös einer anderen Gruppe gegenüber dominant oder überlegen fühlen, von der sie gleichzeitig politisch dominiert wird. Dies ist ein Punkt, über den wir weiter nachdenken: die Frage nach Selbst- und Fremdwahrnehmung einer Gruppe; die Frage, was nach festen Kriterien als ‚Kulturelle Appropriation‘ verstanden würde und was eine Gruppe selbst als ‚Kulturelle Appropriation‘ intendiert.
Können Sie Beispiele nennen?
Wir haben auf der Tagung unter anderem über Appropriation in der jüdischen und (christlich) religiösen Architektur im Rheinland des 11./12. Jahrhunderts gesprochen, über Aneignung bei der Transformation und Dekonstruktion von Moscheen auf der Iberischen Halbinsel unter christlicher Herrschaft, die Auseinandersetzung um Moscheen und hinduistische Tempel im Indien des 12. Jahrhunderts und die Nutzung indigener Sprachen durch spanische Kolonialisten in Lateinamerika. Es ging aber auch um ethnische Stereotypen im spätmittelalterlichen England und Irland, als England irische Identitäten zu dominieren und so zu überschreiben versuchte.
In meinem eigenen Forschungsprojekt am Exzellenzcluster geht es um die Umwandlung von Synagogen in christliche Kirchen im Königreich Kastilien im 14. und 15. Jahrhundert. Nach der oben genannten Definition kann dies als ‚Kulturelle Appropriation‘ verstanden werden: Das Gebäude wurde enteignet, die Identität der Synagogen explizit umgedeutet, es fand in Teilen eine Diffamierung von Jüdinnen und Juden und auch des Judentums in diesen umgewandelten Räumen statt, und zuletzt profitierten die appropriierenden Christinnen und Christen ganz wesentlich davon: Sie erhielten nicht nur ein neues Gebäude und Gotteshaus, der kastilische König nutzte auch die Übergabe der Besitzrechte häufig, um seinen eigenen Geldbeutel zu füllen oder um die Unterstützung einzelner Getreuer zu erhalten oder zu erwerben. Die Profite waren also finanzieller, religiöser wie politischer Natur.
Die Tagung hat historische Fallbeispiele aus vormoderner, auch aus vorkolonialer Zeit beleuchtet. Heute wird in den Medien viel über ‚Kulturelle Aneignung‘ diskutiert – von Karnevalskostümen bis hin zur Übernahme von Musikstilen. Handelt es sich um dasselbe Phänomen?
Historische Vergleiche sind immer problematisch, jede Konstellation ist anders und sicherlich sind die Implikationen heute andere. Auch lässt die Quellenlage solche Vergleiche häufig überhaupt nicht zu. Es ist aber interessant, dass wir Kriterien des Phänomens über einen so langen Zeitraum hinweg erfüllt sehen und dass die Übernahme und Umdeutung von Objekten offenbar in vielen Epochen und Regionen eine etablierte Praxis war oder ist, um Dominanz und Unterdrückung zu etablieren und fortzuführen.
Handelt es sich bei einer solchen Übernahme von Objekten anderer Kulturen immer um eine Diskriminierung der betroffenen Minderheit?
Wenn wir von ‚Kultureller Aneignung‘ sprechen, ist dies sicherlich der Fall, insbesondere wenn wir die Nutzung von Privilegien und die explizite Ausnutzung von politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ungleichheiten auch als eine Form der Diskriminierung verstehen.
Wir sehen in der historischen Forschung aber auch Fälle von Aneignung zwischen gleichberechtigten Gruppen, die aus Interesse und Respekt erfolgen. Hier spricht die Forschung von ‚Aneignung‘ – während sich für die Appropriation in Abhängigkeitsverhältnissen seit dem postcolonial turn der Begriff der ‚Kulturellen Aneignung‘ etabliert hat.
Meiner Meinung nach werden viele Prozesse, ob historisch oder gegenwärtig, zu frei heraus als ‚Kulturelle Appropriation‘ bezeichnet. Es bedarf im Gegensatz einer genauen Untersuchung der jeweils historisch gegebenen Konstellation. Ansonsten wird die Möglichkeit genommen, mit dem Begriff scharf zwischen Unterdrückung und Ausgrenzung auf der einen und Interesse und Anerkennung auf der anderen Seite zu differenzieren. Wissenschaft ist immer um Neutralität bemüht. Als Wissenschaftlerin oder Wissenschaftler ist es nicht unsere Aufgabe, historische Entwicklungen, aber auch Akteurinnen und Akteure oder gar ganze Gruppen zu bewerten. Das Konzept der ‚Kulturellen Appropriation‘ ist jedoch der Versuch, möglichst präzise Formen der Abhängigkeit und Unterdrückung mittels der Übernahme von Objekten von gruppenspezifischer Bedeutung zu beschreiben und auch zu problematisieren. (pie/vvm)