Können Menschen ohne Religion leben?

Der Ethnologe Thomas Hauschild wird neuer Hans-Blumenberg-Gastprofessor am Exzellenzcluster – Vortragsreihe zur „Unvermeidbarkeit von Religion“ – Auftakt am 26. Juni über süditalienische Religiosität jenseits gängiger Klischees

Prof. Dr. Thomas Hauschild
Prof. Dr. Thomas Hauschild - Hans-Blumenberg-Gastprofessor
© Franziska Richter

Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 19. Juni 2017

Ob die Existenz von Religionen unvermeidbar ist, fragt der neue „Hans-Blumenberg-Gastprofessor“ Prof. Dr. Thomas Hauschild in einer öffentlichen Vortragsreihe am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Universität Münster. In den Vorträgen ab Montag, 26. Juni, will der Ethnologe untersuchen, „ob menschliche Kollektive letztlich ohne Religion leben können.“ Religionen beeinflussen nach Einschätzung des Wissenschaftlers „nach Jahrzehnten der Säkularisierung“ die Politik wieder so stark, dass sich die Frage nach ihrer Unvermeidbarkeit stelle. Der Wissenschaftler, der Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften ist, plädiert vor diesem Hintergrund für Religionsforschung, die die subjektive Erfahrung religiöser Menschen ernst nimmt, ohne die Basis wissenschaftlicher Neutralität zu verlassen.

Zum Auftakt der Vortragsreihe präsentiert der Wissenschaftler Ergebnisse aus rund 30 Jahren ethnologischer Feldforschung zu religiösen Praktiken in Süditalien. Hauschild will „gängige Klischees über süditalienische Religiosität korrigieren: In Mitteleuropa gilt sie oft als urtümlicher ‚Glaube‘ oder aber als zynische Verweltlichung einer aus dem Vatikan vorgegebenen bürokratischen und politischen Religion“. Tatsächlich lasse sich das religiöse Alltags- und Festleben der Süditaliener „allenfalls mit dem erweiterten Religions- und Kulturbegriff der Ethnologie und der evolutionären Anthropologie in Deckung bringen“. Die Vorlesung trägt den Titel „Kat’holos in Süditalien. Kirche und staatliche Politik im Stresstest der gelebten Religion“. Es folgen zwei Vorträge, zum Fetischismus im kolonialen Melanesien und in der künstlerischen Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts sowie zu Schamanismus und Neurobiologie im deutschen Vormärz. Die Vorträge sind vom 26. Juni bis 10. Juli 2017 montags von 18.15 bis 19.45 Uhr im Hörsaalgebäude des Exzellenzclusters, Hörsaal JO 1, Johannisstraße 4 in Münster zu hören.

„Religionen besetzen Terrain zivilgesellschaftlichen Handelns“

Der Sprecher des Exzellenzclusters, der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack, unterstreicht, Thomas Hauschild sei „ein Ethnologe mit originellen Ideen“. Durch seine breit gestreuten Forschungsinteressen könne er „in besonderer Weise inspirierend für die interdisziplinären Forschungsarbeiten am Exzellenzcluster wirken.“ Die Ergebnisse seiner Feldforschungen und historischen Analysen seien für viele Fächer am Exzellenzcluster von hohem Interesse. „Das bietet Chancen für neue Wege des wissenschaftlichen Denkens über religiöse Sinnformen und Praktiken.“ Zu den Forschungsschwerpunkten des Blumenberg-Gastprofessors zählen die Unvermeidbarkeit von Religion, Geisterkulte, religiöse Reserven in imperialen Konsumgesellschaften und Religion bei IS- und Al-Qaida-Terroristen.

Hauschild hebt in seiner Forschung die Bedeutung „materialistischer Erklärungen für Religion, die naturwissenschaftliche und soziologische Argumente einbeziehen“ hervor. Diese seien umso wichtiger, so der Ethnologe, als „sie heute durch postmoderne Kritik und religiöse Selbstverständigung zunehmend verunsichert werden.“ Sie sollten aber innerhalb einer staatlichen Gemeinschaft „ohne allzu viel Reibung“ neben den Religionen bestehen können. „Es fragt sich, ob das gelingt, denn die Religionen besetzen mit ihren Empfindlichkeiten zunehmend das Terrain zivilgesellschaftlichen Handelns.“

Buch über Erscheinungen und Geisterkulte

Während seines Aufenthaltes in Münster arbeitet der Forscher an einem Buch über Erscheinungen und Geisterkulte. Darin will er „das Wissen über historisch-spezifische, soziale und politische Bedingungen der Geisterseherei abwägen gegen den Einfluss rudimentärer biologischer Universalien, also des ‚Hereinragens einer Geisterwelt in die unsere‘, wie es etwa der deutsche Dichter und Arzt Justinus Kerner beschrieb.“

Thomas Hauschild, 1955 in Berlin geboren, war zuletzt Professor für Ethnologie und vergleichende Kultursoziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Fellowships und Gastprofessuren führten ihn unter anderem an das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien, das Wissenschaftskolleg zu Berlin und das Internationale Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie in Weimar. Thomas Hauschild hat zahlreiche, viel beachtete Publikationen vorgelegt, darunter „Hexen“, „Der böse Blick“, „Magie und Macht in Italien“ (2002), „Ritual und Gewalt“ (2008), und „Weihnachtsmann – Die wahre Geschichte“ (2012).

Weitere Forscher erwartet

In den kommenden Semestern werden weitere Forscherinnen und Forscher aus wechselnden Disziplinen auf die Hans-Blumenberg-Gastprofessur berufen. Der erste Hans-Blumenberg-Gastprofessor war im Sommersemester 2016 der Bochumer Historiker Prof. Dr. Lucian Hölscher, der sich in Münster mit dem Reformationsjubiläum 2017 und der protestantischen Frömmigkeitskultur in Deutschland befasste. Im Wintersemester 2016/2017 folgte der Würzburger Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Horst Dreier, der am Exzellenzcluster die Herausforderungen des säkularen Verfassungsstaates untersuchte. Die britische Religionssoziologin Prof. Dr. Linda Woodhead ging, ebenfalls im laufenden Sommersemester, als Hans-Blumenberg-Gastprofessorin der Frage nach, inwieweit Konfessionslosigkeit die „neue Religion“ ist. (dak/vvm)

Öffentliche Vortragsreihe „Hans-Blumenberg-Gastprofessur“

„Die Unvermeidbarkeit von Religion“ mit Ethnologe Prof. Dr. Thomas Hauschild

Sommersemester 2017
montags 18.15 bis 19.45 Uhr
Hörsaalgebäude des Exzellenzclusters
Hörsaal JO 1
Johannisstraße 4 in Münster
48143 Münster

Programm

 

 

Hans Blumenberg – Namensgeber der Gastprofessur am Exzellenzcluster

Der renommierte Münsteraner Philosoph Hans Blumenberg (1920-1996) war von 1970 bis zu seiner Emeritierung 1985 Professor an der Universität Münster. Mit seinen Veröffentlichungen trug er wesentlich zur Neubestimmung des Ortes der Neuzeit in der geschichtswissenschaftlichen und philosophischen Diskussion bei. Er stellte die damals vorherrschende Säkularisierungsthese in Frage, nach der theologische Deutungsmuster aus dem Mittelalter über den Umbruch zur Neuzeit hinweg im modernen Staat fortwirken. Im Hauptwerk „Die Legitimität der Neuzeit“ plädiert Blumenberg dafür, die Entstehung der Neuzeit als Akt der humanen Selbstbehauptung gegen die theologischen Absolutheitsansprüche spätmittelalterlichen Denkens zu interpretieren. Auf diese Weise nahm er, in kritischer Absetzung von den Philosophen Carl Schmitt (1888-1985) und Karl Löwith (1897-1973), entscheidenden Einfluss auf die Säkularisierungsdebatte in den Geistes- und Sozialwissenschaften. Dabei trug er auch zur Theorie der historischen Periodisierung und zur Theorie der Moderne bei.

Der Philosoph befasste sich in seinen begriffs-, geistes- und philosophiegeschichtlichen sowie in seinen anthropologischen Studien auch mit der Interpretation von Mythen und Metaphern. So stellte er anekdotische und essayistische Betrachtungen über das Motiv des Löwen an. Die Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff greift dieses Motiv in ihrem Roman „Blumenberg“ auf. Der Wissenschaftler war Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz, des Senats der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Mitglied der Senatskommission für Begriffsgeschichte und Mitgründer der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“. Als junger Mann hatte er das Studium der Katholischen Theologie 1940 abbrechen müssen, da er im Nationalsozialismus mit Blick auf die Familie seiner Mutter als „Halbjude“ galt. Er studierte dann Philosophie, Germanistik und Klassische Philologie. (exc/vvm)