Wenn Religion und Musik Gefühle auslösen
Religionssoziologe Pollack vergleicht das musikalische und religiöse Erleben
Der Religionssoziologe Prof. Dr. Detlef Pollack, Sprecher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“, hat zum Auftakt der neuen Ringvorlesung „Musik und Religion“ über das musikalische und religiöse Erleben im Vergleich gesprochen. Er rückte dabei zunächst den Begriff des Erlebens in den Mittelpunkt, zeichnete die Denklinie der Musik-Auffassung der Romantik nach und plädierte in Abgrenzung davon für eine strukturalistische Analyse der Musik. „Wir sollten uns von der romantischen Vorstellung einer Metaphysik der Musik verabschieden. Der besondere affektive Charakter musikalischer Zusammenhänge erschließt sich vielmehr aus ihren Strukturen: aus Relationen zwischen den Tönen, seien sie rhythmischer, melodischer oder harmonischer Natur.“ Der Wissenschaftler legte Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Religion und Musik im Vortrag und anschließend in einem Kurzvideo dar.
Detlef Pollack verfolgte die Denklinie der Romantik von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher über Wilhelm Dilthey, Friedrich Theodor Vischer bis zu Emil Staiger, auf den der Titel der Vorlesung „‘Begreifen, was uns ergreift‘: Das musikalische und das religiöse Erleben im Vergleich“ zurückgeht. Im Anschluss daran und unter Aufnahme strukturalistischer Argumentationen sprach sich der Soziologe dafür aus, den Erlebnisbegriff als eine Verhältniskategorie zu bestimmen. „Erlebnis kann nicht nur als individueller Bewusstseinsvorgang gefasst werden, sondern auch in seinem Bezug auf den jeweiligen Gegenstand des Erlebens analysiert werden. Außerdem ist zu beachten, dass das stets von sozialen Wahrnehmungsmustern beeinflusst ist.“
Musik und Religion unterbrechen den Alltag
Musik und Religion sei gemeinsam, unterstrich Prof. Pollack, dass sie eine Unterbrechung der Vollzüge und Relevanzen der Alltagswelt darstellten und eine „autonome Sinnrationalität“ erzeugten. „Aufgrund der Strukturen dieser Sinnrationalität können Religion und Musik gleichermaßen affektive Effekte auslösen, Gefühle von Freude und Trauer, Niedergeschlagenheit und Trost.“
Im Unterschied zur romantischen Musikästhetik könne der Musik jedoch „keine quasi göttliche Weihe“ zugesprochen werden, so Pollack. Während Religion Transzendenz und Immanenz verbinde, stelle die Musik seiner Auffassung nach keine hinter den musikalischen Zusammenhängen stehende Beziehung zum Transzendenten oder Absoluten her. Ihre affektive Wirkung erschließe sich vielmehr aus den Strukturen in Rhythmus, melodischer Führung und Harmonie. Der Wissenschaftler führte im Vortrag viele Hörbeispiele am Klavier von Bach über den Tristan-Akkord bis hin zu Paul McCartney an.
„Was musikalisch als schön empfunden wird, variiert historisch und kulturell“, unterstrich der Soziologe. „So liegt den europäischen Hörgewohnheiten eine tonale Struktur zugrunde, die auch durch atonale Klänge nicht außer Kraft gesetzt werden könne“. Vielmehr könnten Disharmonien nur in dem Maße ergreifen, wie sie einem spannungsvollen und maßhaltenden Verhältnis zu den tonalen Hörerwartungen stünden. Die ästhetische Wirkung der Musik hänge ab von ihren regelmäßigen Mustern und der Durchbrechung der Regelmäßigkeit, die den Hörer überrasche. „Die Abweichung wird als ästhetisch reizvoll empfunden.“
Als weiteren Unterschied zwischen Religion und Musik nannte Detlef Pollack ihre inhaltlichen Bezüge: „Trotz struktureller Ähnlichkeiten und daraus folgenden Anleihen beim jeweils anderen besitzt Musik im Gegensatz zur Religion keinen sprachlichen oder in Sprache überführbaren Sinngehalt.“ Aufgrund der Tatsache, dass Religion ihren Sinngehalt inhaltlich und sprachlich fülle, neige sie stärker als Musik dazu, Gegenfragen und Kritik zu provozieren. (vvm)