„Koran zu wenig im monotheistischen Kanon anerkannt“

Arabistin Neuwirth über biblische Wurzeln der Heiligen Schrift des Islams

News Koran Zu Wenig Im Monotheistischen Kanon Anerkannt

Prof. Dr. Angelika Neuwirth

Über den Transfer spätantiken Wissens im Koran und seine biblischen Wurzeln hat die Berliner Arabistin Prof. Dr. Angelika Neuwirth in der Ringvorlesung „Transfer zwischen Religionen“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ und des Centrums für religionsbezogene Studien (CRS) gesprochen. „Der Koran ist immer noch nicht als integraler Teil des monotheistischen Wissenskanons anerkannt, obwohl er fest in der biblischen Tradition wurzelt. Dabei spiegelt der Text wie das Neue Testament und die rabbinischen Schriften deutlich einen Wissenstransfer spätantiker Traditionen“, sagte die emeritierte Professorin für Arabistik der FU Berlin in Münster. Somit weise er sich als Teil jener theologischen Debatten aus, die für die spätere jüdisch-christliche Identität die Basis gelegt hätten. Aber „nicht nur semantisch, sondern auch hermeneutisch“ ist der Koran, dessen Entstehung die Forschung im 7. Jahrhundert nach Christus datiert, ein spätantiker Text. „Er operiert mit verschiedenen Formen jener Textstrategie, die für spätantike Umgänge mit älteren Traditionen charakteristisch ist: der Typologie“, so die Wissenschaftlerin.

Der Koran binde seine Hörer von Anfang an in ein biblisch-arabisches Doppelnarrativ ein, sagte Prof. Neuwirth. „Er sprengt zunächst ihr lokal ererbtes Selbstverständnis durch neue, biblisch begründete Diskurse und stößt damit gewissermaßen eine Biblisierung arabischen Denkens an.“ Die Textstrategie der Typologie erscheine zunächst in Form einfacher Analogsetzung von zeitgenössischen mit biblischen Figuren, etwa Muhammads mit Moses. „Heilsgeschichte wird so in die erlebte Gegenwart eingeholt, die damit eine neue Dimension als Teil des göttlichen Heilsplans erhält.“

„Mekka als arabisches gelobtes Land“

Später habe sich die Aufgabe gestellt, arabische Geschichte als solche mit biblischer zu verflechten, fuhr die Arabistin fort. „Um die Realwelt mit der biblischen Erinnerung zu verbinden, wird jedoch eine komplexere Form der Typologie erforderlich: die Denkfigur von Verheißung und Erfüllung.“ Sie verbinde sich vor allem mit Abraham, der bereits biblisch der Träger von Verheißung schlechthin sei. „Er, dem die biblische Prophezeiung des Einzugs seiner israelitischen Nachkommen ins Gelobte Land zuteilwurde, erfleht in einem koranischen Gebet Segensverheißungen auch für seine arabischen Nachkommen in Mekka, das so zu einem arabischen gelobten Land wird.“

Der Durchbruch der Gemeinde zu einer integralen biblisch-arabischen Identität verdanke sich jedoch einer noch stärkeren Form von Typologie, nämlich der Aufdeckung von biblisch gestalteten „Urszenen“, so die Wissenschaftlerin. „Diese scheinen – wie das Abrahamsopfer – den lokalen kultischen Verrichtungen zu unterliegen und ihnen eine neue, biblisch-heilsgeschichtliche Dimension zu verleihen.“ Der Koran beweise wie kaum ein anderer Text „das lebendige Fortleben einer biblisch bereits manifest gewordenen Hermeneutik“, durch die in der Spätantike ein weiteres Mal die örtlichen und zeitlichen Setzungen realer Geschichte hätten überschritten werden können.

Die Referentin ist Senior-Professorin und emeritierte Professorin für Arabistik an der FU Berlin am Seminar für Semitistik und Arabistik. Ihr Vortrag trug den Titel „Traditionsbildung durch Textstrategie: der Weg der koranischen Gemeinde von Jerusalem nach Mekka“. Am Dienstag, 5. Mai, spricht Judaistin Prof. Dr. Katrin Kogman-Appel aus Beer Shiva, Israel, über „Buchkultur und Bildkultur in der mittelalterlichen jüdischen Gesellschaft: Kulturaustausch zwischen Christen, Juden und Muslimen“. Der Vortrag beginnt um 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22.

Plakat der Ringvorlesung „Transfer zwischen Religionen“

Plakat

Ringvorlesung „Transfer zwischen Religionen“

Die Vortragsreihe „Transfer zwischen Religionen. Wenn religiöse Traditionen einander beeinflussen“ untersucht, wie es zwischen Religionen in verschiedenen Kulturräumen und Epochen zu vielfältigen Formen des Austauschs religiöser und kultureller Traditionen kam. Die Themen der öffentlichen Reihe reichen von multi-religiösen Identitäten in modernen pluralen Gesellschaften über den christlich-muslimischen Dialog im Nahen Osten bis zum Kulturaustausch zwischen Juden, Christen und Muslimen durch Buch und Bild im Mittelalter und dem Reliquientransfer zwischen dem östlichen und dem westlichen Christentum. Erörtert werden auch das gemeinsame Erbe von Philosophie und Wissenschaft in Judentum, Christentum und Islam, die christliche Kabbala, Wechselwirkungen zwischen dem Buddhismus und anderen indischen Religionen sowie die Rezeption hinduistischer Konzepte im Westen und umgekehrt. Vertreten sind die Fächer Religionswissenschaft, Byzantinistik, Indologie, Islamwissenschaft, Judaistik, Sinologie, Theologie und Philosophie. Am Exzellenzcluster werden Transfer-Phänomene seit 2012 im Forschungsfeld „Integration“ untersucht. (han/vvm)


Ringvorlesung „Transfer zwischen Religionen. Wenn religiöse Traditionen einander beeinflussen“

Sommersemester 2015
dienstags 18.15 bis 19.45 Uhr
Hörsaal F2 im Fürstenberghaus
Domplatz 20-22
48143 Münster