Einheit, Verbindlichkeit – Wahrheit?
Prof. Dr. Nils Jansen über Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion
Im Recht erwartet man laut Jurist Prof. Dr. Nils Jansen vor allem Rechtssicherheit, in der Religion verbindliche Wahrheit. Diese Erwartungen von Eindeutigkeit seien in der westlichen und christlichen Welt viel ausgeprägter als in anderen Kulturen, sagte der Wissenschaftler in der Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“. Sein Vortrag betonte die Unterschiede zwischen Recht und Religion, arbeitete aber auch Gemeinsamkeiten heraus.
Einen zentralen Unterschied sieht Jansen darin, dass man im Recht nach dem politischen Gesetzgeber rufen und so die Normsetzung von der Normanwendung abkoppeln könne. „Die Verbindlichkeit einer Vorschrift hängt damit nicht von ihrer Gerechtigkeit ab“, erläuterte Jansen, „sonst wäre unser Steuerrecht ja in weiten Teilen gar nicht anwendbar…“ In der Religion ginge es demgegenüber um Wahrheit, die menschlicher Willkür prinzipiell entzogen sei.
Der Vortrag zeigte auf, wie Glaubensinhalte und rechtliche Lösungen normativ verfestigt werden. Prof. Jansen hat solche Dogmatisierungsprozesse untersucht, beginnend beim Alten Rom. Entscheidend sei, zu wissen, welche Argumente gut oder akzeptabel seien und welche nicht. „Um Normen zu etablieren, bedarf es freilich oft eines Arguments, das den Ausschlag gibt.“ Das könne ein Verweises auf die Autorität einer herrschenden Meinung, einer ständigen Rechtsprechung oder einer Institution wie der Kirche sein. Während die rechtliche Dogmatisierung ihren Ort zumeist an Universitäten und in gelehrten Schriften hatte, wurde im Christentum die Kirche zum Ort verbindlicher Entscheidungen über die „wahre Lehre“.
Autorität und mediale Inszenierung
Von Institutionen lenkte der Referent den Blick zu den Quellen. „Im Mittelalter kam Autorität in erster Linie nicht Personen, sondern Texten zu“, so Jansen. Solche Texte waren häufig das Resultat offizieller Vorgänge, beispielsweise Gesetze oder Beschlüsse eines kirchlichen Konzils. „Zum Teil wurden und werden aber auch wissenschaftliche Texte wie Kommentare als Autoritäten behandelt und fast wie Gesetze angewandt.“ Neben dem Inhalt komme es dabei auch auf die mediale Inszenierung und die Form von Texten an. Bilder von mittelalterlichen Glossen zur Bibel und zu den römischen Rechtstexten des Corpus Iuris Civilis unterstrichen diesen Aspekt.
Das Aushandeln von Wahrheitsansprüchen, die staatliche Einflussnahme auf die Rechtswissenschaft und die Unterschiede zwischen Recht und Religion waren Themen der lebhaften Diskussion, die auf den Vortrag folgte. Viele Faktoren spielten in jedem einzelnen Fall eine Rolle, bilanzierte Professor Jansen. „Trotz wiederkehrender Strukturen sind Dogmatisierungsprozesse immer individuell und komplex.“
Der nächste Termin der Ringvorlesung „Gewohnheit, Gebot, Gesetz“
In der Pfingstwoche pausiert die Reihe
„Gewohnheit, Gebot, Gesetz“. Der nächste Termin der Ringvorlesung am
Exzellenzcluster ist Dienstag, der 1. Juni. Um 18.15 Uhr spricht der
Islamwissenschaftler Prof. Dr. Thomas Bauer über „Normative
Ambiguitätstoleranz im Islam“. Der Vortrag ist öffentlich und findet im
Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 statt. (bhe)