"Das islamische Recht ist nicht starr und dogmatisch"
Wissenschaftler beklagt Ideologisierung des Rechts durch Muslime
Das islamische Recht ist nach Aussage des Münsteraner Islamwissenschaftlers Prof. Dr. Thomas Bauer nicht so starr und dogmatisch wie heute oft dargestellt. „Vielmehr kennt es eine Vielzahl an Normen, die mehr als 1.300 Jahre lang im Alltag von Muslimen erfreulich flexibel angewendet wurden“, sagte der Forscher des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) bei einem öffentlichen Vortrag. Durch die Herausforderungen des Westens hätten Muslime jedoch begonnen, ihr Recht heute zu „ideologisieren und politisieren“, so Bauer. „Fundamentalisten und prowestliche Reformmuslime behaupten gleichermaßen, das islamische Recht sei eindeutig auszulegen.“
Im Westen sähen viele Menschen das islamische Recht daher als „starr, dogmatisch und nicht wandelbar“ an, beklagte der Experte. Sie glaubten auch, die „Scharia“ sei ein Buch mit festen, eindeutigen Regeln. Es handele sich jedoch um eine Summe von Pflichten, die islamische Gelehrte als göttliches Recht interpretierten. Auf die meisten Rechtsfragen gebe es im Islam nicht eine einzige, klare Antwort, unterstrich Bauer. „Vielmehr geht die Rechtstheorie davon aus, dass es eine Mehrzahl gleichermaßen gültiger Normen geben kann. Diese Komplexität hat gut 1.300 Jahre Flexibilität gewährleistet und eine Anpassung an den Alltag ermöglicht.“
Heute sei diese Toleranz gegenüber einer rechtlichen Mehrdeutigkeit verloren gegangen, sagte Bauer. „Die Ideologisierung in der Moderne hat mit dieser Tradition gebrochen und das Recht politisiert.“ So sei es auch erst im 20. Jahrhundert zu Steinigungen bei Ehebruch gekommen. „Davor lässt sich über Jahrhunderte nur eine einzige Steinigung historisch belegen, auch wenn das Recht diese Strafe theoretisch vorsah“, sagte Bauer. Sie habe im 17. Jahrhundert in Anatolien stattgefunden. In allen anderen Fällen hätten die Rechtsgelehrten so hohe Hürden angesetzt, dass es beim Verdacht auf Ehebruch nie tatsächlich zur Steinigung gekommen sei, so der Forscher in seinem Vortrag über „Normative Ambiguitätstoleranz im Islam“.
Der Islamwissenschaftler äußerte sich in der Ringvorlesung „Gewohnheit, Gebot, Gesetz“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“, die sich im Sommersemester mit der Entstehung von Normen in Geschichte und Gegenwart befasst. Die 13 Vorträge reichen von den Zehn Geboten bis zum modernen Verfassungsrecht. Kommende Woche spricht der Frankfurter Rechtshistoriker Prof. Dr. Joachim Rückert über „Normenstrenge und Abwägung im Funktionswandel“. Der öffentliche Vortrag ist am 8. Juni um 18.15 Uhr im Hörsaal F 2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 zu hören. (vvm)