„Der Koran ist mehr als ein exotischer Text“
Arabistin Prof. Dr. Angelika Neuwirth beklagt verkürzte Wahrnehmung der muslimischen Schrift im Westen
Der Koran ist nach Einschätzung der Berliner Arabistin Prof. Dr. Angelika Neuwirth in Westeuropa zu lange als „exotischer Text“ verkürzt wahrgenommen worden. Die westliche Wissenschaft habe ihn oft als „gescheiterte Nachahmung der Bibel“ stigmatisiert und die Forschung in muslimischen Ländern zu wenig berücksichtigt, kritisierte sie am Sonntagabend in Münster. Dabei bilde der Koran komplizierte theologische Diskussionen ab und sei nur zu verstehen, wenn er als Diskussion zwischen dem Propheten Mohammed und seinen Hörern gelesen werde. In ihrem neuen Ansatz geht sie von der These aus: „Der Koran ist Mitschrift, und nicht nur Resultat eines Verkündigungsprozesses, ein ergebnisoffenes Drama“, sagte die Expertin in einem Vortrag am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU).Neuwirth bezeichnete den Koran als „verbindendes europäisches Vermächtnis“. Er sei ein arabischer Text, umfasse aber ebenso jüdische, christliche und antik-heidnische Traditionen. „Mohammed war nicht nur ein Prophet, sondern auch der Ausleger älterer Schriften“, betonte die Arabistin. „Aus historischer Perspektive leben wir deswegen nicht in einem jüdisch-christlichen, sondern in einem jüdisch-christlich-islamischen Europa.“ Zwischen den drei Weltreligionen bestünden engere Verbindungen, als oft gesehen werde.
Neuwirth äußerte sich in einem Vortrag zum Thema „Koranforschung - eine politische Philologie?“. Sie sagte, die Koranwissenschaft sei nach ihrer Ansicht immer auch politisch, und sprach sich gegen eine Forschung aus, „die sich überhaupt nicht dafür interessiert, welche Rezeption ihre Ergebnisse finden“. Die Wissenschaftlerin eröffnete in Münster die Konferenz „Beyond Tradition? Tradition und Traditionskritik in Religionen“, die die Judaistin Prof. Dr. Regina Grundmann vom Exzellenzcluster und der orthodoxe Theologe Prof. Dr. Assaad Elias Kattan vom Centrum für Religiöse Studien (CRS) veranstalten und die bis Dienstag dauert.
Die Teilnehmer kommen aus Deutschland, Israel und den USA sowie aus zahlreichen verschiedenen Fächern. Sie beleuchten das Phänomen der Traditionskritik von der Antike bis in die Gegenwart, von dem alle drei monotheistischen Weltreligionen betroffen sind und das ihre Geschichte entscheidend geprägt hat. „Die Möglichkeiten und Grenzen der Traditionskritik sind ein Thema, das sich bestens über die Grenzen einzelner Fächer, Kulturen und Epochen hinweg behandeln lässt“, sagte Prof. Dr. Gerd Althoff, Sprecher des Exzellenzclusters, zum Auftakt.
An die breite Öffentlichkeit wendet sich am Montagabend eine Podiumsdiskussion um 20.00 Uhr in der Aula des Schlosses in Münster. Der jüdische Autor Rafael Seligmann (Berlin) und der muslimische Dramaturg und Übersetzer Recai Hallaç (Istanbul/Berlin) diskutieren aus literarischer Sicht über Traditionskritik in den Religionen. Auch die wachsende Tendenz zur Abschottung der Weltreligionen kommt zur Sprache. (arn/vvm)