„Niemand kennt die ganze Wahrheit“
Warum die Religionen der Welt voneinander lernen sollten
Die Religionen der Welt sollten aufeinander hören, meint Wissenschaftler Prof. Dr. Perry Schmidt-Leukel. In einem anhaltenden interreligiösen Diskurs sollten sie versuchen, die Wahrheit anderer Religionen mit den Einsichten der eigenen religiösen Tradition zu verbinden. Dieser Prozess habe bereits begonnen, schreibt der Religionswissenschaftler in einem Beitrag für die Homepage www.religion-und-politik.de des Exzellenzclusters „Religion und Politik“. Es sei eine soziologisch gut belegte Realität, dass immer mehr Menschen eine multireligiöse Identität entwickelten.
Der Beitrag:
Nie zuvor in der Geschichte sind sich die großen Religionen der Welt so nahe gekommen wie heute. Dies führt zu teilweise paradoxen Situationen. Auf der einen Seite erleben wir Formen konstruktiver Begegnung. Religionen öffnen sich füreinander in Dialog und Zusammenarbeit. Sie sind neugierig und lernen voneinander. Immer mehr Menschen, auch in Deutschland, schöpfen für ihre Spiritualität aus unterschiedlichen Religionen.
Auf der anderen Seite bestehen zahlreiche Spannungen mit religiöser Dimension. Fundamentalistische Kräfte gehen auf Abwehr und Konfrontation. Das Konfliktpotential von Religion steht uns heute deutlich vor Augen. Religionskritiker wie Richard Dawkins haben gar die provokante Frage gestellt, ob Religion die „Wurzel allen Übels“ sei. Von religiöser Seite hört man hierauf auf die Antwort, dass Religionen an sich friedfertig seien. Sind sie in Konflikte verwickelt, dann werden sie hierzu „missbraucht“. Doch diese Antwort ist nicht überzeugend. Ein solcher „Missbrauch“ ist nämlich nur möglich, weil ihnen ein genuin religiöses Konfliktpotential zu eigen ist. Meines Erachtens stellt sich den Religionsgemeinschaften daher die wichtige Aufgabe, nach dem in ihnen angelegten Konfliktpotential zu fragen.
Die Ursache dieses Potenzials liegt hier: Wenn eine Religion davon ausgeht, dass die von ihr verkündete Lehre zur höchsten Wahrheit führt und für das Leben des Menschen von letzter Bedeutung ist, die Lehren anderer Religionen jedoch defizitär oder falsch sind, dann wäre es aus ihrer Sicht wünschenswert, dass alle Menschen zu dieser einen Religion finden. Das beinhaltet jedoch, dass alle anderen Religionen verschwinden sollten. Wenn mehrere Religionen so denken, stellen sie füreinander latente Bedrohungen dar.