"Nicht von religiösem Pluralismus geprägt"
Historiker Dr. Olaf Blaschke über die deutsche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts
Die deutsche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts ist nach Ansicht des Historikers PD Dr. Olaf Blaschke aus Trier nicht von religiösem Pluralismus geprägt gewesen. „Pluralismus bedeutet mehr als Pluralität, als bloße Vielheit. Pluralismus bedeutet, dass diese Vielheit akzeptiert und sogar gewollt ist“, sagte er am Dienstagabend in der Ringvorlesung „Integration religiöser Vielfalt“ des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU). Im 19. Jahrhundert hätten die verschiedenen Konfessionen einander aber nicht als gleichwertig anerkannt. „Protestanten und Katholiken pflegten vielmehr ihre Vorurteile übereinander, aber auch gegenüber Juden“, so Blaschke.
Durch neue Grenzziehungen sowie die Industrialisierung begegneten sich die Vertreter verschiedener Glaubensgruppen dem Historiker zufolge im 19. Jahrhundert häufiger als zuvor. In der Folge hätten sich die konfessionellen Konflikte wieder verstärkt. „Die unterschiedlichen Konfessionen profilierten ihre eigene Identität, indem sie sich von anderen abgrenzten“, so Blaschke. Die Integration religiöser Vielfalt sei oft nur dadurch gelungen, dass sich Protestanten, Katholiken und Juden aus dem Weg gingen und religiöse Themen tabuisierten. Der Cluster-Wissenschaftler Armin Owzar habe das für Hamburg in seiner Habilitationsschrift überzeugend gezeigt. „Die verschiedenen Glaubensgruppen hatten jeweils eigene Vereine, eigene Parteien und eigene Kneipen. Wenn zeitgenössische Lebenserinnerungen oder harmonisierende Heimatgeschichten ein friedliches Zusammenleben schildern, sollte man das nicht einfach für bare Münze nehmen.“
Toleranz war als Wert in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts nach den Worten des Historikers nicht allgemein akzeptiert. „Auch Antisemitismus, Antikatholizismus und Antiprotestantismus waren weit verbreitet und bildeten eine Art kultureller Gegennorm. Es gab sehr mitgliederstarke Vereine, die nichts anderes im Sinne hatten, als den konfessionellen Gegner anzugreifen.“ Rechtlich waren die Glaubensgemeinschaften laut Blaschke seit 1869 zwar gleichgestellt, im Alltag sei es aber oft zu Diskriminierungen gekommen. „Die Katholiken waren im Deutschen Kaiserreich des 19. Jahrhunderts deutlich in der Minderheit. Vielen Protestanten galten sie als national unzuverlässig, hinterwäldlerisch und bildungsfern.“ Ihrerseits seien die Katholiken aber ebenfalls keine unschuldigen Opfer gewesen. Papst Pius X. habe die Reformatoren noch im Jahr 1910 in einer Enzyklika als „hochmütige und aufrührerische Männer“ bezeichnet, deren Gott der Bauch gewesen sei. Zudem sei es bis in die 1960er-Jahre im katholischen Milieu üblich gewesen, Protestanten verächtlich als Ketzer zu bezeichnen.
Blaschkes Vortrag trug den Titel „Konfessionelle Koexistenz und Konflikt in der Kulturkampfzeit“. In der Ringvorlesung „Integration religiöser Vielfalt“ des Exzellenzclusters geht es in diesem Wintersemester um aktuelle Fragen ebenso wie historische Beispiele von der Antike über das vormoderne China und Indien bis zum mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa. Beteiligt sind Historiker, Soziologen, Juristen, Judaisten, Theologen, Religionswissenschaftler und Ethnologen. Kommenden Dienstag, 21. Dezember, spricht der Althistoriker Prof. Dr. Angelos Chaniotis zum Thema „Jenseits des Marktes der Religionen. Kultgemeinden als ,emotional communities‘ im römischen Osten“. Die Ringvorlesung beginnt wie immer um 18.15 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses (Domplatz 20-22). (arn)