Die bekannteste aller epischen Strophen ist zweifelsohne die Nibelungenstrophe. Beachtliche 4000 Strophen hält der Autor seine Strophenform durch, statt zum für epische Texte üblichen und viel leichter beizubehaltenden Reimpaarvers zu greifen. Über die Gründe für diese Entscheidung kann nur spekuliert werden, sicher spielte eine gewisse Erleichterung beim Auswendiglernen eine Rolle, ob dies aber der einzige bzw. entscheidende Grund war, kann heute wohl kaum geklärt werden. Ähnliche
Ungewissheit herrscht auch in Bezug auf den Autor des großen Epos. Im Gegensatz zu den Verfassern der höfischen Romane, die viel Wert darauf legten, ihre Namen bekannt zu machen und als Autoren ihrer Werke anerkannt zu werden, blieben die Autoren heldenepischer Werke, wie des Nibelungenlieds, anonym. Mit relativer Sicherheit kann aber gesagt werden, dass das Nibelungenlied um das Jahr 1198 im Umkreis der Bischofs von Passau entstanden ist.
1 Uns ist in alten mæren wunders vil geseit von helden lobebæren, von grôzer arebeit, von fröiden hôchgezîten, von weinen und von klagen, von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren sagen.
Wie Sie sehen, sind alle Verse der Strophe länger, als Sie es aus den bisherigen lyrischen Beispielen (Ausnahme: Der Kürenberger) kennen: Es handelt sich bei den Versen des Nibelungenliedes um sogenannte Langverse, die aus zwei Kurzversen, dem Anvers und dem Abvers, bestehen. In Editionen ist es, so wie Sie es auch vor sich sehen, üblich, die Trennung der beiden Kurzverse (Zäsur) durch einige Leerzeichen zu verdeutlichen.
Am Vorgehen bei der Analyse ändert sich durch den Langvers nichts. Behandeln Sie die beiden Kurzverse wie separate Verse, d.h. jeder Kurzvers verfügt über eine Kadenz. Der alternierende Rhythmus muss über die Zäsur also nicht beibehalten bleiben.
Drucken Sie die Strophen hier aus und analysieren Sie sie nach dem bewährten Verfahren. Lesen Sie sich zunächst den ersten Langvers laut vor und setzen Sie dann die Akzente.