© Bonnie Plitzkat

Grundbesitzurkunde aus dem osmanischen Algerien

Inventarnr.: Hs. 1
Datierung: Šaʿbān 1142–1246 n. H. / Februar-März 1730–1830 n. Chr.
Geogr. Bezug: Algier, Algerien
Material: Papier
Umfang: 1 Folio
Maße: 23,6 cm x 136,2 cm
Duktus: andalusī
Provenienz: vermutlich 1905 in Algerien von Prof. Dr. Hubert Grimme erworben, aus dem Nachlass von Prof. Dr. Hubert Grimme in den Besitz des Instituts übergegangen

 


Am 14. Juni 1830 landet in Sidi-Fredj, westlich von Algier, eine französische Flotte, deren mehr als 500 Schiffe über 37.000 Soldaten transportieren, die am 5. Juli siegreich in der Hauptstadt einziehen. Schon in den ersten Monaten nach der Eroberung beginnen die Franzosen mit einer tiefgreifenden Umgestaltung der Stadt: Weite Teile des alten Stadtzentrums werden abgerissen und der umfassende Grundbesitz des osmanischen Militärs wird enteignet. Innerhalb von Wochen verschwindet eine über Jahrhunderte gewachsene Topographie.
Ein Zeuge dieser erzwungenen, abrupten Veränderungen ist das vorliegende Dokument, das den Besitz eines vor den Toren von Algier gelegenen Gartens (hocharab. ǧanna, alg.-arab. ǧnīna) im Verlauf eines ganzen Jahrhunderts dokumentiert. Wo dieser Garten genau lag, lässt sich heute nicht mehr genau rekonstruieren. Laut dem Dokument befand er sich außerhalb von Bāb ʿAzzūn, dem Südtor der Stadt in der Osmanenzeit, an einem „Wād al-Qalʿī“ genannten Wasserlauf. Bei letzterem handelt es sich möglicherweise um den Oued Kniss, der auf französischen Karten von 1838 als Oued el Kleiy bezeichnet wird.
Der älteste der insgesamt 14 Texte, die das Dokument umfasst, ist auf Mitte Šaʿbān 1156 (Anfang Oktober 1743) datiert. In ihm bestätigen drei Zeugen, dass der Garten im Besitz des verstorbenen ʿUṯmān at-Turkī war. Diese Besitzfeststellung (arab. iṯbāt al-milk) war notwendig geworden, da die ursprünglichen Dokumente verloren gegangen waren und die Besitzer den Garten offensichtlich verkaufen wollten, was kurz darauf auch geschah. Die folgenden Texte dokumentieren die weitere Entwicklung der Besitzverhältnisse, die aufgrund von Teilverkäufen, Ratenzahlungen und Erbteilungen zwischenzeitlich sehr komplex waren. Anfang Ḏū l-Qaʿda 1193 (Mitte November 1779) erwarb schließlich ein gewisser ʿAlī, seines Zeichens āġat aṣ-ṣabāyiḥiyya (Kommandeur der Kavallerie), den Garten und wandelte ihn in eine persönliche Stiftung (arab. waqf bzw. ḥubs) um.
Bei ʿAlī Āġa handelte es sich um einen Angehörigen der osmanischen Miliz (wie übrigens wohl auch beim ersten dokumentierten Besitzer ʿUṯmān at-Turkī). Diese Tatsache sollte sich ein halbes Jahrhundert später als verhängnisvoll erweisen: Am 8. September 1830 verfügten die französischen Besatzer die Enteignung des gesamten Besitzes der osmanischen Miliz, einschließlich der Stiftungen. Dies spiegelt sich im letzten Text des Dokuments wieder, demzufolge der Garten Anfang Ǧumāda II 1246 (Mitte November 1830) in den Besitz eines christlichen Arztes namens „Ǧūn Būt“ (Jean Botte/Bout[t]e?) „überging“ (arab. intaqala), ohne die genaue Art dieses Übergangs anzugeben. Der Stempel eines französischen Anwalts lässt vermuten, dass der neue Besitzer oder seine Nachfolger dieses Dokument später verwendeten, um ihren Besitz gegenüber der französischen Verwaltung zu dokumentieren.
An unserem Dokument lässt sich also beispielhaft das Ende der traditionellen, im islamischen Recht kodifizierten Eigentumspraxis und die Etablierung einer modernen Verwaltung nach französischem Vorbild nachvollziehen. Den langen, in ausgefeilter juristischer Terminologie verfassten Texten aus der Osmanenzeit stehen eine knappe Notiz und ein kaum lesbarer Stempel gegenüber, hinter denen sich ein mit brachialer Gewalt durchgesetzter und für viele Algerier*innen zweifellos traumatischer Umsturz der vertrauten politischen, sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Ordnung verbirgt.

-Jens Fischer


Literatur

Ġaṭṭās, ʿĀʾiša: Siǧillāt al-maḥākim aš-šarʿīya fī dirāsat at-tārīḫ al-iqtiṣādī wa-l-iǧtimāʿī bi-muǧtamaʿ madīnat al-Ǧazāʾir. In: Insānīyāt III, S. 69-89.

Grangaud, Isabelle: Prouver par l’écriture propriétaires algérois conquérants français et historiens ottomanistes. In: Genèses LXXIV (2009), S. 25-45.

Shuval, Tal: La ville d’Alger vers la fin du XVIIIe siècle. Population et cadre urbain. Paris 1998.