Blatt aus einem safawidischen Koran
Inventarnr.: Hs. 26
Datierung: 11 Jh. H. / 17. Jh. n. Chr.
Geographischer Bezug: Iran
Material: Papier
Umfang: 1 Folio
Maße: 28,8 cm x 18,8 cm
Duktus: nasḫī, persische Übersetzung und Randglossen in nastaʿlīq
Illumination: Ornament zur Markierung eines ḥisb
Textstelle: Recto: Sūrat aṣ-Ṣaff, 61:8-14; Verso: Sūrat aṣ-Ṣaff, 61:14; Sūrat al-Ǧumʿa, 62:1-6
Provenienz: 1998 durch Dr. Norbert Heinrich Holl im Kunsthandel erworben; 2023 Schenkung durch
Dr. Norbert Heinrich Holl an das Institut für Arabistik und Islamwissenschaft
Auch wenn sich auf diesem Einzelblatt aus einem Koran kein Kolophon mit Angaben zu Ort und Zeit seiner Entstehung befindet, lässt schon der erste Blick vermuten, dass dieser Koran im persischsprachigen Raum, wahrscheinlich in Iran zur Zeit der Safawidendynastie (1501-1722) entstand. Darauf deuten die Illumination, die eingeschobenen Zeilen mit interlinearer Übersetzung und die im iranischen Raum beliebte Nastaliq-Schrift der Randglossen hin.
Illumination
Der Name der Sure al-Ǧumᶜa = Der Freitag, die Anzahl ihrer Verse und der Offenbarungsort Mekka sind in weißer Schrift in einer goldenen Kartusche vermerkt. Das Gold kontrastiert mit dem lapislazuliblauen, mit Blumen dekorierten rechteckigen Hintergrund. Die runden goldenen Verstrenner sind ungewöhnlich aufwändig gestaltetet, so dass sie wie geöffnete Blütenkelche wirken. Besonders auffällig sind die goldenen Randornamente zur Markierung von Untereinheiten des Korans: recto und verso kennzeichnen achtzackige goldgrundige Sterne mit einem eingeschriebenen ع einen Rukūᶜ , eine Einheit von jeweils ungefähr zehn Versen, nach deren Abschluss der Rezitator sich während des Koranvortrags verneigt. Zu Beginn der Sure al-Ǧumᶜa ist direkt über dem Rukūᶜ-Stern ein in Gold, Blau und Rosa höchst filigran gestaltetes Haspen-Motiv angebracht, das mit dem Wort niṣf die Hälfte eines Ḥizb (ein Sechzigstel des Korantexts) markiert.
Schriftspiegel und Glossen
Der Schriftspiegel (11,4 cm x 19,2 cm) ist durch horizontale dunkelgraue Linien in ein gleichmäßiges Raster unterteilt. Auf die elf jeweils 1,1 cm hohen Zeilen mit koranischem Text folgt jeweils eine nur 0,5 cm hohe mit einer persischen Übersetzung. Die Koranverse sind mit schwarzer Tinte in einem klaren, gut lesbaren Naskh-Duktus geschrieben. Naskh war über Jahrhunderte vom Nahen Osten bis nach Indien der beliebteste Stil für Koranhandschriften. Die schwarze Tinte ist für den heiligen Text reserviert; mit roter Tinte sind die kleinen Rezitationszeichen über dem Text und die Farsi-Übersetzung im Duktus Nastaliq geschrieben.
Auf der Vorder- und Rückseite des Blattes fallen zwei persische Randglossen in rechteckigen Feldern auf: Worte in glänzend schwarzer Nastaliq-Schrift sind auf diagonal verlaufenden weißen Wolkenfeldern vor goldenem Hintergrund unregelmäßig angeordnet.
Beziehung der Glossen zum Inhalt der Suren
Die Kommentare erklären, aus welchem Anlass nach muslimischer Überlieferung einzelne Verse herabgesandt, d.h. offenbart wurden. Sie stellen die Verse in den Kontext der Interaktion des Propheten mit seinen Gefährten und den sogenannten Ahl al-Kitāb, den Besitzern einer (heiligen) Schrift - gemeint sind damit im Koran Juden und Christen - und machen sie so den zeitgenössischen persischen Lesern zugänglich. Möglicherweise handelt es sich bei den Glossentexten um Zitate aus persischen Kommentarwerken (tafsīr).
Auf der recto-Seite des Blattes, die den zweiten Teil der Sure 61 aṣ-Ṣaff = Die Reihe umfasst, befindet sich die Glosse neben den Versen 10-12. In der Sure weist Gott die Menschen darauf hin, dass sie einer Bestrafung entgehen und stattdessen Zugang zu paradiesischen Gärten erlangen können, indem sie an Gott und seinen Gesandten glauben und sich auf dem Wege Gottes einsetzen. Der persische Text erläutert die Situation, in der die Sure offenbart wurde: Gott habe mit diesen Versen auf eine Frage der Prophetengefährten reagiert: „Welche Taten müssen wir vollbringen, damit wir aus dem Höllenfeuer errettet werden und in die Gärten mit Wohlgeruch und sanftem Wind eingehen?“
Die Glosse auf der verso-Seite, die sich auf den Anfang der Sure 62 al-Ǧumᶜa= Der Freitag bezieht, wird durch einige theologische Anmerkungen eingeleitet: Die Sure ist medinensisch und hat elf Verse, von denen keiner einen anderen Vers abrogiert und keiner durch einen anderen Vers abrogiert worden ist.
Die Aussagen der Sure sind also für die Gläubigen verbindlich – was nicht nur für Theologen, sondern auch für die einfachen Muslime und Musliminnen von Interesse gewesen sein dürfte. Danach werden zwei Sinnabschnitte dieser Sure im Hinblick auf die Anlässe ihrer Offenbarung kommentiert: Laut Vers 2 ist Gott derjenige, der unter den Schriftunkundigen einen der ihren als Gesandten auftreten ließ, der sie die Weisheit und das (heilige) Buch lehrte. Hiermit sollte laut der Glosse dem Spott der Schriftbesitzer (Ahl al-kitāb) über die Araber begegnet werden: Die Ahl al-kitāb hätten ihnen vorgeworfen, dass sie keine (heilige) Schrift besäßen sowie des Schreibens unkundig und frei von Wissen und Weisheit seien.
Zum Vers 6 im zweiten Abschnitt der Sure, in dem nur die Juden adressiert und für die Behauptung, sie seien die einzigen Freunde Gottes, mit harschen Worten getadelt werden, vermerkt der Kommentar, die Ahl al-kitāb hätten sich als Freunde Gottes bezeichnet.
Interlineare Übersetzung
Die Farsi-Übersetzung in Hs. 26 versucht, Wort für Wort dem arabischen Text zu folgen. Da sich auf Persisch manches kürzer als auf Arabisch ausdrücken lässt, manches aber mehr Wörter erfordert, führt diese Art der Übertragung dazu, dass die winzigen, mit roter Tinte geschriebenen persischen Worte ungleichmäßig innerhalb der Zeilen verteilt sind und wie flüchtig hingeworfene Notizen wirken. Anders als beim arabischen Text war hier die Ästhetik gegenüber der Funktion zweitrangig: der Korancodex, aus dem das Blatt stammt, sollte einer persischen Leserschaft, die des Arabischen nicht mächtig war, die Bedeutung des koranischen Texts nahebringen. Die Widergabe der Verse in Farsi hatte dabei keinesfalls den gleichen Rang wie der arabische Korantext, der ja als unübersetzbares Sprachkunstwerk betrachtet wurde und wird.
Herkunft des Blattes
Gerade in Koranen aus dem spätsafawidischen Iran (spätes 17. bis Anfang des 18. Jhs.) sind Interlinearübersetzungen verbreitet anzutreffen. Möglicherweise sind sie Ausdruck der politisch-religiösen Landschaft dieser Jahrzehnte, die durch den Theologen Mohammad Bāqer Majlesi (1627-98)[1] geprägt wurde. Dieser verfasste neben zahlreichen arabischen Werken mehr als fünfzig Schriften in persischer Sprache, in denen er auch arabische Texte und Gebete ins Farsi übertrug. Sein selbsterklärtes Ziel war es, der breiten Volksmasse, die meist kein Arabisch verstand, religiöse Bildung zu vermitteln und damit insbesondere die schiitische Richtung der Safawiden im Reich zu verwurzeln.[2] Die gleiche Absicht verfolgte offensichtlich auch Shah Sulayman, indem er 1084 H / 1673/4 AD den Gelehrten Ali Rezā Ibn Kamāl ad-Dīn Husaynī Ardakānī Shirāzī beauftragte, eine persische Koranübersetzung anzufertigen.[3] Ob es sich bei der interlinearen Übersetzung auf unserem Blatt um die Übersetzung Ardakānīs handelt, ist noch nicht geklärt.
Das Blatt ist somit höchstwahrscheinlich im 17. Jahrhundert in der Zeit von Shah Sulayman (reg. 1666-1694) oder Shah Sultan Husayn (reg. 1694-1722) im safawidischen Iran entstanden. Darauf deuten einerseits stilistische Gemeinsamkeiten mit Vergleichsobjekten hin, aber auch die interlineare persische Übersetzung des arabischen Korantexts und die persischen Glossen, die in den religiös-politischen Kontext dieser Zeit passen. Eine Herkunft aus einer anderen Region der Persophonie, insbesondere dem indischen Mogulreich, in dem viele iranische Theologen, Kalligraphen und Künstler lebten und arbeiteten, ist jedoch nicht auszuschließen.
[1] R. Brunner: MAJLESI, MOḤAMMAD BĀQER, in EncIr https://iranicaonline.org/articles/majlesi-mohammad-baqer (7. Aug 2024)
[2] Vgl. Sh. Blair. Islamic Calligraphy 423 und Z. Mirza Heern: al-Majlisī, Muḥammad Bāqir, in: EI THREE https://referenceworks.brill.com/display/entries/EI3O/COM-36057.xml?rskey=nQoLOZ&result=1(7. Aug 2024):
[3] M. Bayani / T. Stanley 126
- Monika Springberg
Literatur:
Bayani, M. / Stanley, T.: Iran. The late Safavid renewal and Ahmad Nayrizi, in: dies. und Contadini, Anna (Hgg.): The decorated word. Qur’ans of the 17th to 19th centuries, Oxford 1999 (= The Nasser D. Khalili Collection of Islamic Art, Vol. IV Part One) S. 125-130.
Blair, Sh.: Islamic Calligraphy, Edinburgh 2008.
Déroche, F.: Manuscripts of the Qur’ān, in: McAuliffe, J.D. (Hg.): Encyclopedia of the Qur’ān, Vol. 3, Leiden und Boston 2003, S. 254-275.
Vergleichsobjekt:
Koran mit interlinearer Übersetzung BL Or. MS. 13371, datiert AH 1171 / 1727/28 AD