Erste Doppelseite mit den Suren al-Fātiḥa und al-Baqara
© Monika Springberg

Khawam-Koran

Inventarnr.:         Hs. 24
Datierung:           ca. 12.-13. Jh. n. H. / 18.-19. Jahrhundert n Chr.
Geogr. Bezug:    Osmanisches Reich, Anatolien und Ägypten
Umfang:               vollständiger Koran
Maße:                   17,5 cm x 11,5 cm x 3,4 cm
Material:              Papier, Ledereinband
Illumination:       erste Doppelseite aufwändig mit Gold und floralen Elementen
Kalligraph:          ʿUṯmān al-Šukrī al-Asbartawī bekannt als Amīr Husaynzadeh, Schüler des Ḥāǧǧī
                                Muḥammad al-Ḫulūsī
Provenienz:         1977 von Dr. Norbert Heinrich Holl in Kairo von dem Kunsthändler Roger Khawam aus
                                dessen Privatbesitz erworben; 2022 Schenkung durch Dr. Norbert Heinrich Holl an
                                das Institut für Arabistik und Islamwissenschaft

Illumination

Wer den Khawam-Koran aufschlägt, trifft auf eine prächtig illuminierte Doppelseite mit der Sure al-Fātiḥa und den ersten Versen der Sure al-Baqara. Gold ist die dominierende Farbe – im äußeren Schmuckrahmen  sind goldene Wolkenbandelemente und Blütenranken in Schattierungen von Rosa und Rot, Blau und Hellblau ineinander verwoben. Hellblaue und rosafarbene schmale Bänder mit der für die Osmanenzeit typischen filigranen schwarzen Binnenstruktur gliedern die Seite in rechteckige Felder: den Schriftspiegel mit dem koranischen Text sowie die beiden Rechtecke darüber und darunter für die goldenen Kartuschen mit Surennamen, Versanzahl und Offenbarungsort. Die gesamte Illumination ist mit einem rechteckig verlaufenden rosafarbenen Band eingefasst. In der Mitte der Doppelseite (linker Rand von fol. 1v und rechter Rand von fol. 2r) befinden sich zwei senkrecht verlaufende blaugrundige Leisten mit goldenem Band und rosa Blüten. Die aufgeschlagene Seite wirkt dadurch wie eine zusammenhängende Tafel. Allerdings ist die Blütenleiste auf fol. 1v weitgehend überklebt worden – offensichtlich hatte sich das Blatt durch häufiges Umblättern weitgehend aus der Bindung gelöst, so dass es mit einem aufgeklebten Papierstreifen fixiert werden musste.

Für große Teile der goldenen Illumination wurde Blattgold verwendet – dieses wurde nicht nur mit einer Klebesubstanz auf den Seiten fixiert, sondern auch vorsichtig eingehämmert: Davon zeugen die zahlreichen Spuren einer Punziernadel und eines -stempels mit drei im Dreieck angeordneten Punkten im Gold, die sich bis auf die andere Seite des Papiers durchgedrückt haben. Die mattgoldenen Flächen, die den Hintergrund der Blumenranken bilden, sind mit Goldfarbe gemalt, für die Goldpigment in einer Trägersubstanz aufgelöst wurde.

Dies ist die einzige derart aufwändig illuminierte Doppelseite in diesem Koran – alle anderen Seiten sind schlichter gestaltet, wobei das gleiche klare Naskh verwendet worden ist. Den Schriftspiegel umrahmen auf jeder Seite dünne Linien in Rot und Schwarz und eine breitere in Gold. Die Surenüberschriften sind als rechteckige Felder mit weißer Schrift auf Goldgrund gestaltet – meist umrahmt von schmalen Bändern in Rosa, Hellblau oder Abricot mit der für die Osmanenzeit typischen filigranen schwarzen Binnenstruktur. Der Duktus der Surennamen ist ein verspieltes Riqāᵓ.

mekkanische Suren
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Der koranische Text ist mit schwarzer Tinte in einem klaren, gut lesbaren Naskh-Duktus geschrieben – auf der ersten Doppelseite auf Wolkenfeldern vor goldenem Hintergrund. Goldene Scheiben, die durch flüchtige Striche in sechs Kreissegmente unterteilt oder als Blütenkelche gestaltet sind, fungieren als Verstrenner.

Beim Durchblättern des Korans fällt auf, dass die Schrift nicht immer gleichmäßig groß ist – manchmal sind am Ende einer Sure Worte und Buchstaben eng zusammengestaucht, teilweise sogar die letzten Worte einer Sure in den Kasten mit der Überschrift der nächsten geschrieben, z.B. ist das letzte Wort der Sure 35 Fāṭir  بَصِيراً  mitten in die Überschrift der Sure 36 Yā Sīn hineingeschrieben. Offensichtlich waren der Textrahmen und die Felder für die Surenüberschriften vom Illuminator bereits vorgezeichnet, so dass der Schreiber den Text in den zur Verfügung stehenden Raum einpassen musste und dabei manchmal wenig vorausschauend agierte.

Überschrift der Sure Yā Sīn mit Einschub
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Die Aufteilung der Seiten vor dem Kopieren wurde durch die traditionelle Gliederung des Korans in dreißig Teile (ǧuzᵓ pl. aǧzāᵓ) erleichtert – die Unterteilung des Korans in dreißig Teile war seit Jahrhunderten in der religiösen Praxis von Bedeutung, weil man mit ihrer Hilfe im Laufe der dreißig Tage eines Monats den gesamten Koran in gleichmäßigen Partien rezitieren oder studieren konnte. Osmanische Kopisten nutzten dieses Gliederungsprinzip seit dem 18. Jahrhundert, um den Herstellungsprozess von kleinformatigen Koranhandschriften zu effektivieren[1]. Dies lässt sich am Khawam-Koran exemplarisch erkennen: Ein Ǧūzᵓ ließ sich auf zwanzig Seiten mit je fünfzehn Zeilen unterbringen – dafür brauchte man ein sogenanntes Quinion, einen Bogensatz aus fünf Doppelblättern, die in der Mitte gefaltet wurden und so zehn Folios mit zwanzig Seiten ergaben. Diese Bogensätze aus fünf Doppelblättern sind am Khawam-Koran gut erkennbar. Der Text wurde so auf die Seiten verteilt, dass jede Seite idealerweise mit einem Versende abschloss. Der Schreiber wusste also genau, bis zu welchem Vers der Text auf einer bestimmten Seite reichen musste. Solche in der Regel kleinformatigen Korane wurden āyāt ber-kenār Korane genannt. Sie hatten üblicherweise fünfzehn Zeilen pro Seite und bestanden aus etwa 300 Folios – Merkmale, die auf den Khawam-Koran zutreffen.
 

Sure al-Ḥiǧr – Beginn von Ǧuzᵓ 14
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Randornamente

Auffälliges Merkmal in diesem Koran sind die sehr schön gestalteten floralen Randornamente am Anfang eines jeden Ǧuzᵓ. Sie befinden sich auf jedem zehnten Blatt - immer oben auf einer linken Seite - und beruhen auf der gleichen Grundform einer Blüte, an die sich nach oben und unten eine feine gerade Linie mit zarten blauen Blättchen und Goldflecken anschließt. Diese Grundform wird variiert: meist schaut man von oben in den Kelch einer Blüte mit vier bis acht Blütenblättern, die mal spitz, mal rund sind; seltener ist eine Knospe von der Seite abgebildet; farblich dominiert mal Rosa, mal Hellblau, immer kombiniert mit Gold.

Ḥizb (rechts) und Saǧda (links)
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Die Enden der ersten drei Viertel eines Ǧuzᵓ sind jeweils am Rand mit dem Wort حزب ḥizb in roter Tinte markiert, das zumeist von einem weniger aufwändigen Ornament teilweise verdeckt wird: Dieses besteht aus einer goldenen Scheibe in der Art der Verstrenner, von der aus sich filigranes blaues Blattwerk entlang einer vertikalen Linie wenige cm nach oben und unten erstreckt – der Illuminator ist also wohl erst nach dem Kopisten tätig geworden. Welche Bedeutung dem Ḥizb - in diesem Koran einem Viertel eines Ǧuzᵓ - in der Glaubenspraxis zukam, ist unklar. Möglicherweise spielte er eine Rolle beim Auswendiglernen des Korantexts.

Eine weitere, in der Gestaltung ähnliche Gruppe von Randornamenten begegnet in diesem Koran zur Markierung der fünfzehn Saǧdas. An diesen Stellen wirft sich die Person, die den Koran liest, wie beim Ritualgebet zu Boden – sei es beim privaten Koranstudium oder beim öffentlichen Vortrag. An die Stelle der goldenen Scheibe treten hier drei goldene Kreise, die ein auf der Spitze stehendes Dreieck bilden.
 

Duᶜā‘ und Kolophon
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Duᶜā‘

Auf den Text der letzten Sure 114 an-Nās folgen zwei Seiten mit einer sogenannten Duᶜāᵓ. Sie beginnt mit einem Lobpreis des Korans und schließt danach den Wunsch an, dass der Koran weiterhin seine segensreiche Wirkung entfalten möge, so z.B. die Gläubigen von allen irdischen Übeln zu befreien und zur Erlösung im Paradies zu führen. Auf der letzten Seite folgt ein Bittgebet für den Propheten, seine Familie und seine Gefährten. Auch die Vorfahren und Verwandten des Schreibers, seine Lehrer (asātīḏinā) sowie Muslime und Musliminnen aller früheren und gegenwärtigen Generationen werden in das Gebet einbezogen. Die letzte Seite ist etwas unregelmäßig als ein sich nach unten verjüngendes Dreieck gestaltet. Der Text wird zu beiden Seiten von goldenen Punkten in der Art der Verstrenner im Korantext flankiert.


Kolophon

Unter der Duᶜāᵓ befindet sich in einem rechteckigen Feld ein schmuckloses dreizeiliges Kolophon. Dieses gibt zwar leider kein Datum an, vermittelt aber durch die ausführliche Namensnennung einen Einblick in die Welt der osmanischen Kalligraphen und enthält einen möglichen Anhaltspunkt zur zeitlichen Einordnung.

كتبه الفقير الحقير الحافظ عثمان الشّكريّ الاسبارتوي المعروف

بامير حسين ذاده من تلاميذ حاجي محمّد الخلوصي المعروف  بافندد (؟)  .....ه غفر الله له ولوالديه

„Dies hat abgeschrieben der arme, nichtswürdige Ḥāfiẓ ᶜUṯmān aš-Šukrī al-Isbartawī, bekannt als Amīr Ḥusaynzādeh, Schüler des Ḥāǧǧī Muḥammad al-Ḫulūṣī, bekannt als Efendi […]h - möge Gott ihm und seinen Eltern vergeben.“

Der Kopist mit Namen ᶜUṯmān / Osman war ein sogenannter Ḥāfiẓ, d.h. dass er den Koran auswendig konnte. Er gehörte zur Familie aš-Šukrī /Şükrü; seine Nisba al-Isbartawī deutet darauf hin, dass er aus der Stadt Isparta im Westen der heutigen Türkei stammte. Er erwähnt, dass er auch unter dem Namen Amīr Ḥusaynzādeh bekannt ist, was besagt, dass sein Vater Ḥusayn /Hüseyin hieß.

In Biographiensammlungen der Osmanenzeit, die Kalligraphen verzeichnen, sind für die Region Isparta Dutzende Kalligraphen mit dem Namen Şükrü verzeichnet, unter anderem einer mit dem Namen Ḥüseyin Şükrü Efendi, der im Jahr 1792 von seinem Lehrer Vehbi Efendi die sogenannte Iǧaza erhielt, d.h. die Erlaubnis, den Beruf des Kalligraphen auszuüben. Der Schreiber unseres Korans könnte ein Sohn dieses Hüseyin gewesen und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Kalligraph tätig gewesen sein.

Im Kolophon bezeichnet der Kopist sich als Schüler von Ḥāǧǧī Muḥammad al-Ḫulūṣī – indem er den Namen seines Lehrers nennt, stellt er sich in dessen Traditon. Die Bedeutung der Meister-Schüler-Kette (arab. silsila) zeigt sich auch darin, dass der Kopist seine Lehrer (asātīḏinā) in das Bittgebet einschließt. Prosopographische Werke mit Biographien von Kalligraphen sind Beleg für die so entstehenden Kalligraphen-Schulen und können bei der Datierung von Handschriften helfen. Bis in die Gegenwart ist in der Türkei für Kalligraphen religiöser Texte die Zugehörigkeit zur Schule eines bestimmten Meisters essenziell[2].


Gebrauchsspuren

Beschädigungen und Verfärbungen an den Seitenrändern geben Hinweise darauf, welche Seiten des Korans am häufigsten aufgeschlagen und welche Suren am häufigsten gelesen wurden. Besonders die erste Doppelseite weist Beschädigungen am Rand auf und wurde sicher aufgrund ihres prächtigen Dekors oft betrachtet und aufgrund der großen Bedeutung der Sure al-Fātiḥa in der täglichen Frömmigkeitspraxis am häufigsten aufgeblättert. Auch die Seiten mit der Sure 36 Yā Sīn, die bis heute als Totengebet, bei Begräbnissen und zum Totengedenken rezitiert wird, und der Sure 56 al-Wāqiᶜa, die man zum Schutz vor plötzlichen materiellen Verlusten gern abends vor dem Schlafengehen betet, wurden von den Besitzern der Handschrift oft gelesen. Spuren häufiger Berührung finden sich ebenfalls auf den letzten Seiten des Korans mit den kurzen mekkanischen Suren, z.B. bei der Sure 94 al-Inširāḥ, durch die Muslime und Musliminnen sich bis heute göttliche Hilfe bei Ängsten und psychischen Nöten erhoffen.

Diese Gebrauchsspuren weisen darauf hin, dass dieser kleine osmanische Muṣḥaf aus einem privaten Kontext stammt, dort nicht nur einem repräsentativen Zweck diente, sondern tatsächlich oft genutzt wurde.
 

Einband mit Vorsatzpapier
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Einband

Der Einband des Khawam-Korans scheint im 20. Jahrhundert erneuert worden zu sein. Darauf deutet das goldene Motiv mit dem Halbmond und den drei Sternen in den vier Zwickeln von Einbanddeckel und -rückseite hin, das auch Teil der Flagge des Königreichs Ägypten (1922-1953) war. Außerdem ist auf dem Buchrücken  قرأن كريم Qurᵓān Karīm als Buchtitel eingeprägt, darunter ein kurzes Koranzitat (Q 56:79) لا يمسه الا المطهرون lā yamassuhu ilā l-muṭahharūn – ihn berühren nur die Reinen. Die Prägung ist im Stil westlicher ledergebundener Bücher auf der schmalen Seite des Buchrückens angebracht: Man konnte den Buchtitel lesen, wenn das Buch wie in westlichen Bibliotheken hochkant aufgestellt war. In traditionellen arabischen Bibliotheken lagerten Bücher dagegen aufeinander gestapelt. Das cremeweiße Vorsatzpapier, das mit kleinen graugrünen spiralartigen Ornamenten in unendlichem Rapport bedruckt ist, scheint aus europäischer (möglicherweise aus englischer oder italienischer) Produktion zu stammen. 


Datierung

Aufgrund der Anordnung des Textes, des Dekors und der verwendeten Farben ist der Textblock dieses kleinen Korans wahrscheinlich ins 18. oder frühe 19. Jahrhundert zu datieren. Der Stil der Illumination lässt keine präziseren Schlüsse zu, da Koranilluminatoren offensichtlich große Gestaltungsfreiheit genossen und wahrscheinlich auf individuelle Wünsche der Auftraggeber eingingen, so dass bestimmte stilistische Merkmale nicht sicher einem bestimmten Künstler zugeordnet werden können und sich keine „Schulen“ ausmachen lassen. Der aktuelle Einband allerdings dürfte zwischen 1922 und 1953 angefertigt worden sein.  

 

 

Literatur

Blair, Sheila: Islamic Calligraphy, Leiden und Boston 2008.

Déroche, F.: Manuscripts of the Qurᵓān, in: McAuliffe, J.D. (Hg.): Encyclopedia of the Qurᵓān, Vol. 3, Leiden und Boston 2003, S. 254-274

Stanley, Tim: Istanbul and its scribal diaspora. The calligraphers of Müstakim-zade, in: ders. / Contadini, A. / Bayani, M. (Hgg.): The Decorated Word. Qur’ans of the 17th to 19th centuries, Oxford 1999 (The Nasser D. Khalili Collection of Islamic Art, Vol. IV Part One) S. 60-123

 

 

[1] Vgl. Déroche 271

[2] Blair, S. 476f, erwähnt ein Meister-Schüler-System unter osmanischen Kalligraphen, dessen Ursprung mindestens bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht.