Einzelblatt eines Korans aus Kaschmir

Recto
© Monika Springberg
Verso
© Monika Springberg

 

Inventarnr.:          Hs. 11
Datierung:            11.-12. Jahrhundert n. H. / 17.-18. Jahrhundert n. Chr.
Geogr. Bezug:     Kaschmir
Material:               Papier
Umfang:                1 Folio
Maße:                    ca. 25 cm x 17 cm
Duktus:                 Textfeld: nasḫī, Randglossen: nastaʿlīq
Illumination:        florale Muster, rot, blau
Provenienz:          2018 Schenkung von Dr. Norbert Heinrich Holl an das Institut für Arabistik und
                                 Islamwissenschaft
Textstelle:             Sūrat al-Ḥadīd, 57:1-8

 

Das Kaschmirtal mit der Stadt Srinagar war zur Zeit der afghanischen Durrani-Dynastie und der Sikh-Herrschaft im 18. und 19. Jahrhundert ein Zentrum der indischen Papierproduktion. In zahlreichen kleinen Manufakturen wurden Baumwolllumpen sowie Säcke und Seile aus Hanf aufwändig recycelt, so dass hochwertige Papiere entstanden. Der französische Naturwissenschaftler Victor Jacquemont, der Kaschmir 1831 bereiste, hat die Papierherstellung im Detail beschrieben. Da der Rohstoff Papier in Srinagar in hervorragender Qualität und großer Menge vorhanden war, übten dort zahlreiche Kalligraphen ihr Handwerk gewerbsmäßig aus. Jacquemont berichtet von 700 bis 800 Kopisten, die auf Bestellung Korane, aber auch die populärsten Werke der persischen Literatur wie das Shahnameh oder die Gedichte des Hafez für zahlungskräftige Kunden abschrieben. Tausende von Arbeitsstunden der Arbeiter in der Papierherstellung, der Kalligraphen und Illuminateure waren für die Vollendung solcher Manuskripte erforderlich. Unser Blatt stammt höchstwahrscheinlich aus einer Koranhandschrift (arab. muṣḥaf) die in diesem Milieu entstand. Wegen der ästhetischen Qualität einer jeden Seite wurde der Muṣḥaf vermutlich im 20. Jahrhundert in Einzelblätter aufgelöst, die im Kunsthandel getrennt verkauft wurden.

Das Blatt umfasst den letzten Teil der Sure 56 al-Wāqiᶜa / Die Hereinbrechende und den ersten Teil der Sure 57 al-Ḥadīd / Das Eisen (recto: Q 56: 55-87, verso: Q 56: 88-96 und Q 57: 1-8). Die achtzehn Textzeilen jeder Seite sind in einem regelmäßigen Naskh-Duktus ausgeführt, der häufig in kleinformatigen Koranen der späteren Jahrhunderte vom Osmanischen Reich bis nach Indien verwendet wurde. Die Vokalzeichen weisen Besonderheiten auf, die für Korane aus Kaschmir typisch sind: So ist das Ḍamma, das vor Wāw و ein langes ū anzeigt, um 180 Grad gedreht, also nach unten offen.

Die Schrift in glänzender schwarzer Rußtinte scheint auf weißen, zart schwarz konturierten Wolkenbändern zu schweben. Die Räume zwischen den Zeilen sind mit goldener Farbe ausgefüllt. Kleine goldene Scheiben markieren das Ende eines Verses – die heute übliche Verszählung war früher unbekannt. Über diesen Verstrennern sieht man an vielen Stellen kleine arabische Buchstaben in roter Tinte – hierbei handelt es sich um Rezitationszeichen, die den Vortragenden z.B. anzeigten, an welchen Stellen sie eine Pause machen durften oder mussten. Das Vorkommen von Rezitationszeichen legt nahe, dass der Koran, aus dem das Blatt stammt, nicht repräsentativen Zwecken diente, sondern Teil der persönlichen Frömmigkeitspraxis seiner Besitzer*innen war, also zum intensiven Studium und zum mündlichen Vortrag genutzt wurde. Darauf deuten auch Gebrauchsspuren an den Seitenrändern hin, die offensichtlich mindestens einmal beschnitten wurden.

Dünne schwarze, sowie blaue Linien unterschiedlicher Breite und eine dickere goldene Linie umrahmen den Schriftspiegel an allen vier Seiten – diese Art von Rahmen ist charakteristisch für Korane aus der östlichen islamischen Welt. Im Abstand von ca. 3 cm darum verläuft eine Bordüre mit einer Ranke von Lotusknospen in Rosa und Hellblau. Die Illumination mit Lotusknospen ist ein Spezifikum von Koranen aus Kaschmir. Da ausgedehnte Lotusvorkommen auf dem Dal-See die natürliche Umwelt im Kaschmirtal prägten, lag es nahe, die Blüte, die auch in der Ikonographie des Buddhismus und Hinduismus Reinheit und Transzendenz symbolisierte, in der Koranillumination zu verwenden. Seit dem späten 13. Jahrhundert begegnen Lotusknospen und geöffnete Lotusblüten als dekoratives Element in der indo-muslimischen Architektur der Sultanate von Delhi und Gujarat und im Mogulreich.

Auffällig sind die diagonal angeordneten persischen Glossen in Nastaliq-Schrift, die den Raum zwischen dem inneren Rahmen und der Lotusbordüre ausfüllen– auch dies ein Charakteristikum kaschmirischer Korane. Da zur mutmaßlichen Entstehungszeit des Koranblatts in Kaschmir kaum jemand Arabisch verstand, waren die meisten kaschmirischen Leser*innen auf Übersetzungen und Kommentare in einer ihnen verständlichen Sprache angewiesen. Persisch war im 15. Jh. von Sultan Zayn al-ᶜĀbidīn in Kaschmir anstelle von Sanskrit als Hof- und Kultursprache eingeführt worden. (Umgangssprache war und ist noch heute das Kaschmiri, eine indogermanische Sprache des dardischen Zweigs.) Die persischen Glossen auf unserem Blatt bieten nur eine Teilübersetzung besonders markanter Aussagen, wie z.B. „Gott ist allmächtig, Gott ist der Schöpfer der Himmel und der Erde, Gott ist der Offenbare, Gott ist der Verborgene.“ Dazu kommen Stellen mit kommentierendem Charakter, die auf Hadithe zurückgreifen. Unter anderem geht es um die Frage, ob auch Menschen aus vorislamischer Zeit ins Paradies eingehen können.

Über die Käufer dieser kostbaren Handschriften lässt sich nur spekulieren: Der Jahreslohn der Arbeiter und Kalligraphen, die an ihrer Herstellung beteiligt waren, hätte nicht ausgereicht, um ein Exemplar zu bezahlen. Vielleicht waren es wohlhabende kaschmirische oder iranische Kaufleute, die z.B. durch den Handel mit den seit dem 18. Jahrhundert in England und Iran beliebten Kashmirshawls reich geworden waren, die solche Korane für sich selbst erwarben und zugleich Bücher aus kaschmirischer Produktion mit nach Iran nahmen und dort verkauften? Nach Angaben Jacquemonts wurden kaschmirisches Papier und viele kaschmirische Handschriften über Bombay nach Iran und ins Osmanische Reich exportiert und sollen so auch in europäische Bibliotheken gelangt sein. Wann unser Blatt nach Patna gelangte, wer den Koran dorthin brachte, wer ihn besaß, darin las und daraus rezitierte, bevor er in den Kunsthandel gelangte, wird sich wahrscheinlich nicht mehr ermitteln lassen.

-Monika Springberg