Konzeption der Lernumgebung zum strategiebasierten Textverstehen in Mathematik

Die für das TeMo-Projekt konzipierte Lernumgebung besteht aus fünf Unterrichtsstunden mit jeweils 45 Minuten Dauer.

Ihr Ziel ist es, durch die Vermittlung von Lesestrategien das Textverstehen zu unterstützen und damit die Grundlage für eine Förderung der Modellierungskompetenz zu schaffen.
Modellierungskompetenz ist eine der sechs Fachkompetenzen in den Bildungsstandards und sie umfasst anspruchsvolle Übersetzungsprozesse zwischen Realität und Mathematik.

Die Lernumgebung ist durch die Wahl des Satz des Pythagoras als mathematischen Inhalt für Schülerinnen und Schüler ab der Jahrgangsstufe 9 an Realschulen und Gymnasien angepasst. Mit Bezug auf die eingesetzten Modellierungsaufgaben bedeutet dies, dass sich alle Modellierungsaufgaben mit Hilfe dieses Satzes lösen lassen.
Vor der Unterrichtseinheit sollen die Lernenden den Satz des Pythagoras an innermathematischen Aufgaben , d. h. Aufgaben ohne jeglichen Realitätsbezug, kennengelernt haben, sodass sie diesen mathematischen Inhalt für die Bearbeitung von Modellierungsaufgaben einsetzen können.

  • Inhalte und Ablauf der Unterrichtsstunden

    Die fünf Unterrichtsstunden der Lernumgebung des TeMo-Projekts ergeben folgende Struktur:

    1. Stunde 2. Stunde 3. Stunde 4. Stunde 5. Stunde
    Einführung der Lesestrategien Üben der Lesestrategien Übungen zum Modellieren mithilfe von Lesestrategien

    Weitere Übung und Reflexion

    Die erste Stunde besteht aus zwei Phasen:
    In der ersten Phase erhalten die Lernenden den Arbeitsauftrag zu einer Modellierungsaufgabe, die ihrer Meinung nach wichtigsten Angaben im Text zu markieren und eine beschriftete Skizze zu erstellen. Eine Lösung der konkreten Modellierungsaufgabe ist explizit nicht gefordert, um die Aufgabenbearbeitung auf die Lesestrategien zu fokussieren. Bei der Bearbeitung dieses Arbeitsauftrags bearbeiten die Lernenden den Auftrag zunächst in einer Einzelarbeitsphase individuell, bevor sie sich in einer Kleingruppe mit anderen Lernenden über ihre Lösungsansätze austauschen.
    Im Anschluss an diese Gruppenarbeitsphase schreiben alle Schülerinnen und Schüler ihre individuellen, eventuell durch die Gruppenarbeitsphase zuvor angepassten Bearbeitungen auf. Der genaue Ablauf dieser Arbeitsphasen wird durch eine Arbeitskarte (vgl. Schukajlow et al. 2011) transparent gemacht. Durch eine anknüpfende Plenumsphase wird Gelegenheit zur Reflexion von Vorgehen und Schwierigkeiten bei der Erstellung von Markierungen und Skizzen gegeben und an Beispielen erläutert, was geeignete Markierungen sind und worauf es bei qualitativ hochwertigen Skizzen ankommt und somit Kriterien für den Einsatz von Strategien mit hoher Qualität aufgestellt.
    In der zweiten Phase der ersten Unterrichtsstunde der Lernumgebung steht die Entwicklung des Lösungsplans für Modellierungsaufgaben. Dazu erhalten die Lernenden die auf dem Lösungsplan stehenden Sätze als Schnipsel und müssen diese sowohl den passenden Lesestrategien Markieren bzw. Zeichnen einer Skizze zuordnen als auch diese in die passende Reihenfolge bringen.

    Thema der zweiten Stunde ist das Üben der Lesestrategien unter Rückgriff auf die in der Stunde zuvor aufgestellten Kriterien zum Einsatz von Strategien mit hoher Qualität. Die Lernenden sollen die wichtigsten Angaben im Text markieren und eine beschriftete Skizze zu zwei weiteren Modellierungsaufgaben erstellen.
    Auch in dieser Stunde wird eine Lösung der Aufgabe nicht gefordert, aber für besonders schnelle Schülerinnen und Schüler als Möglichkeit angeboten. Novum ist in dieser Stunde außerdem der Einsatz des in der ersten Stunde erarbeiteten Lösungsplans.

    In den übrigen drei Stunden wird der Arbeitsauftrag zum Markieren und Zeichnen einer Skizze um den Auftrag erweitert, die Aufgaben nun auch zu lösen. Die Arbeitsphase folgt weiterhin der bekannten Struktur, die Erstellung, Besprechung und Anpassung der Lösungswege wird nahtlos integriert.
    Den Abschluss der fünften Stunde bildet eine Reflexionsphase, in der im Plenum die Nützlichkeit der Lesestrategien detailliert besprochen wird.

  • Binnendifferenzierung in der Lernumgebung

    Ein Anspruch an die Lernumgebung des TeMo-Projekts ist die Berücksichtigung der Heterogenität der Lernenden mit dem übergeordneten Ziel, alle Lernenden entsprechend ihrer individuellen Voraussetzungen möglichst optimal zu fördern.
    Im TeMo-Projekt geschieht dies durch den Einsatz von selbstdifferenzierenden Modellierungsaufgaben. Diese lassen verschiedene Bearbeitungsweisen und Lösungen auf unterschiedlichen Anforderungsniveaus zu (vgl. Schukajlow & Krug 2014), was sich vor allem in den verwendeten mathematischen Modellen und Operationen, aber auch in der Verwendung verschiedener mathematischer Darstellungsformen, also Tabellen, Graphen, Gleichungen o.ä., äußert.
    Somit können Lernende einen eigenen Lösungsweg wählen, der sowohl an ihr persönliches Leistungspotential als auch an ihre individuellen Präferenzen angepasst ist. In der Aufgabe Fallschirmsprung sind beispielsweise beide der folgenden Skizzen und die korrespondierenden mathematischen Modelle zulässig, spiegeln jedoch unterschiedliche Anspruchsniveaus von Schülerinnen und Schülern wider.

    Modellierungsaufgabe: Fallschirmsprung
    © Schukajlow/Böswald
    Skizze zur Aufgabe Fallschirmsprung mit niedrigem Anspruchsniveau
    © Valentin Böswald
    Skizze zur Aufgabe Fallschirmsprung mit hohem Anspruchsniveau
    © Valentin Böswald
  • Unterrichtliche Umsetzung der Lernumgebung

    Der Einsatz von Modellierungsaufgaben im Sinne eines selbstdifferenzierenden Aufgabentyps ist nicht trivial, sondern wird von potenziellen Schwierigkeiten im Rahmen der unterrichtlichen Umsetzung begleitet. Die Offenheit der Modellierungsaufgaben gibt nur wenig Struktur im Lösungsprozess vor und dieser beinhaltet häufig implizit die Anforderung an die Lernenden, eigene Annahmen zu relevanten Größen oder Zusammenhängen zu treffen. Insofern fordern Modellierungsaufgaben von den Lernenden Selbstregulationsfähigkeiten in hohem Maße. Für einige Lernende kann dies eine Schwierigkeit darstellen (vgl. Leuders & Prediger 2016). Um diesem Umstand zu begegnen, spielt die unterrichtliche Umsetzung mit den gewählten didaktisch-methodischen Elementen eine wichtige Rolle.

    In der Lernumgebung des TeMo-Projekts sind diese Elemente insbesondere Interventionen der Lehrkraft, Kooperationsformen sowie bedarfsgerechte Hilfestellungen.
    Letztere sind konkret durch den Lösungsplan für Modellierungsaufgaben (vgl. Schukajlow et al. 2015) im Sinne eines Scaffolding-Instruments zur Unterstützung bei den Modellierungsaktivitäten Verstehen und Vereinfachen/Strukturieren implementiert.
    Lernende mit Schwierigkeiten beim Verstehen der Realsituationen in den Modellierungsaufgaben können während der Aufgabenbearbeitung zudem Gebrauch von Anschauungsmaterial machen. Für die Modellierungsaufgabe Fallschirmsprung besteht dieses aus einem Miniatur-Fallschirmspringer, mit dem die betreffende Realsituation authentisch nachgestellt werden kann und die Lernenden somit eine Unterstützungsmöglichkeit beim Verstehen darstellt. Eine mögliche Handlungsanweisung ist etwa: „Stelle dich auf deinen Stuhl, strecke die Hand mit dem Fallschirmspringer schräg über deinen Kopf und lasse diesen los. Puste dann gegen den fallenden Fallschirmspringer und beobachte den Flugverlauf.“
    Den Schwierigkeiten beim Modellieren kann ferner durch Wechsel der Kooperationsformen entgegengewirkt werden. Im TeMo-Projekt wurde für die Arbeitsphasen in der Lernumgebung eine Form der kokonstruktiven Gruppenarbeit gewählt, deren positive Effekte empirisch nachgewiesen wurden (vgl. Schukajlow et al. 2009). Ziel dieser speziellen Gruppenarbeitsform ist die individuelle Entwicklung eines Lösungswegs für die zu bearbeitende Aufgabe, der nach einem Austausch mit einer Kleingruppe von Schülerinnen und Schülern gegebenenfalls angepasst werden kann. Durch diesen Wechsel der Sozialformen können die Lernenden sich gegenseitig im Lösungsprozess unterstützen, aber auch Hilfestellungen von der Lehrkraft bekommen, ohne im selbstständigen Arbeitsprozess eingeschränkt zu werden. Den Abschluss dieser Gruppenarbeitsphase sollte eine Plenumsphase bilden, in der die multiplen Bearbeitungswege der Lernenden ausgewertet und reflektiert werden können.