Strategiebasiertes Textverstehen im Fach Deutsch

Im Rahmen der Deutschdidaktik sowie der Praxis des Deutschunterrichts gilt das Verstehen von Texten als ein zentrales Ziel und die Förderung des Verstehens durch die Vermittlung und das Training von Lesestrategien somit als wichtige didaktische Aufgabe (vgl. Baurmann 2009).
Dementsprechend weit ist die lesedidaktische Forschung in Bezug auf Lesestrategien zur Förderung des Textverstehens. Konsensuell werden Lesestrategien in diesem Kontext als mentale Werkzeuge verstanden, die der Planung, Steuerung und dem Verlauf von Textverstehen dienen und das Erfassen, Verstehen und Behalten von Textinformationen erleichtern (vgl. Artelt et. al. 2007; Rosebrock & Nix 2020). Dabei handelt es sich um allgemeine Lesestrategien, die früh, also bereits in der Grundschule, erlernt und im weiteren schulischen Verlauf ausdifferenziert und erweitert werden können.
In den Bildungsstandards, den Lehrplänen und den verschiedenen Lehrwerken für den Deutschunterricht der Grundschule und der weiterführenden Schulen lassen sich in der Regel mittlerweile Verweise auf Lesestrategien finden. Zurückgegriffen wird dabei in den Lehrwerken oftmals jedoch immer noch auf Varianten der 5-Schritt-Lesemethode, die sich an der SQR3-Methode (Robinson 1946) und der weiterentwickelten PQR4-Methode (Thomas & Robinson 1972) orientieren. Problematisch ist dabei, dass diese Programme die nachfolgenden Entwicklungen der kognitionspsychologischen und lesedidaktischen Forschung, z. B. die Erkenntnisse der Bedeutung der Metakognition für den Verstehensprozess, die Relevanz des Vorwissens für das Verstehen von Texten sowie den Einfluss der Leistungsmotivation und des Selbstkonzepts der Leserinnen und Leser (vgl. Artelt 2000; Schreblowski 2004) nicht oder zu wenig berücksichtigen. Außerdem wird oftmals nicht deutlich, dass Lesestrategien systematisch und über einen längeren Zeitraum vermittelt und geübt, regelrecht eintrainiert werden müssen, damit die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzt werden, diese mittel- und langfristig möglichst automatisiert einsetzen können.
Neben diesen zum Teil verkürzten Ansätzen in Lehrwerken stehen aber auch Trainingsprogramme zur Förderung des Textverstehens zur Verfügung, die den aktuellen psychologischen und didaktischen Forschungserkenntnissen weitestgehend entsprechen. Programmen wie Lesen. Das Training (Bertschi-Kaufmann et al. 2015), Wir werden Textdetektive (Gold et al. 2004) oder der Grundschulversion dieses Programms Wir werden Lesedetektive (Rühl & Souvignier 2006) ist gemeinsam, dass sie den Schülerinnen und Schülern ein Repertoire an Lesestrategien vermitteln, Übungsmaterialien für das Anwenden einzelner Strategien sowie Strategien in Kombination anbieten und dabei explizit die Metakognition sowie das lesebezogene Selbstkonzept und die Motivation der Schülerinnen und Schüler fördern.
Die Ziele solcher Programme sind, den Schülerinnen und Schülern ein Repertoire an Lesestrategien sowie Kenntnisse darüber zu vermitteln, wie, wann und warum welche Lesestrategien eingesetzt werden, und sie dazu zu befähigen, diese Lesestrategien effektiv und zielführend einsetzen zu können, um Texte zu erschließen. Problematisch ist jedoch hier, wie auch in den Lehrbüchern, dass oftmals Sachtexte und literarische Texte gleichermaßen als Übungstexte für die Anwendung der jeweiligen Lesestrategien zum Einsatz kommen.

Lesestrategien im Fachprojekt Deutsch

Das Fachprojekt Deutsch fokussiert die Vermittlung und das Training von Lesestrategien aus kognitionspsychologischer Perspektive. So lernen die Schülerinnen und Schüler im Rahmen des Unterrichtsprojekts elaborative Lesestrategien, wie die bewusste Aktivierung des inhaltlichen Vorwissens und das Fragenstellen, reduktiv-organisierende Lesestrategien, wie Wichtiges unterstreichen, Sinnabschnitte einteilen und Zusammenfassen, und metakognitive Lesestrategien, also die Planung, Überwachung und Regulierung des Verstehensprozesses und des Einsatzes der kognitiven Lesestrategien, kennen und zielführend anzuwenden.

Diese Lesestrategien lassen sich nach ihrem zeitlichen Einsatz im Lese- und Verstehensprozess in Strategien vor dem Lesen, während des Lesens und nach dem Lesen kategorisieren:

  • Vor dem Lesen

    Vor dem Lesen können das Beachten der Überschrift, der Bilder und weiterer Textmerkmale (Textsorte, typografische Gestaltung) sowie bewusste Mutmaßungen zum Thema dazu beitragen, zum einen das inhaltliche Vorwissen zum Thema des Textes zu aktivieren und die Vorstellungsbildung anzuregen, zum anderen eine Erwartungshaltung zu erwecken, zu einer Einschätzung der Schwierigkeit des Textes zu gelangen und den Lese- und Verstehensprozess zu planen.

  • Während des Lesens

    Während des Lesens werden Lesestrategien eingesetzt, die das Verstehen des Textes unterstützen, indem aktiv und konstruktiv Verknüpfungen von Satzfolgen und Textteilen vorgenommen, bewusst lokale und globale Kohärenzen gebildet und unbekannte und schwierige Wörter sowie schwierige Sätze und Textstellen erschlossen werden. Außerdem kommen Lesestrategien zum Einsatz, mit deren Hilfe der Text strukturiert und auf wesentliche Aussagen reduziert werden kann. Während des Lesens wird das Verstehen sowie der Einsatz der Lesestrategien überwacht und ggf. reguliert.

  • Nach dem Lesen

    Nach dem Lesen werden die wichtigsten Informationen des Textes zusammengefasst. Diese Zusammenfassungen können schriftlich, in Form von zusammenhängenden Texten oder Stichworten, aber auch grafisch, z. B. im Format einer Tabelle oder eines Flussdiagramms, realisiert werden. Außerdem erfolgt eine metakognitive Reflexion des Vorgehens und des Verstehensprozesses.

Vermittlung und Training im Fachprojekt Deutsch

Wie den meisten Trainingsprogrammen liegt auch dem Lesetraining innerhalb des Fachprojekts Deutsch die Annahme zugrunde, dass der Einsatz von Lesestrategien dem Bewusstsein zugänglich und damit auch erlern- und trainierbar ist. Weil aber die bewusste Anwendung von Strategien das Arbeitsgedächtnis so stark beansprucht, dass in diesen Momenten nicht mehr ausreichend mentale Ressourcen für Textverstehensprozesse zur Verfügung stehen (vgl. Hasselhorn 1992; Hasselhorn & Artelt 2018), muss die Anwendung der Lesestrategien durch ein langfristiges, wiederholtes Training automatisiert werden. Je automatisierter die Anwendung von Lesestrategien erfolgt, desto mehr kognitive Ressourcen stehen dem Verstehensprozess selbst zur Verfügung.
Vor diesem Hintergrund wird im Rahmen des Fachprojekts bezüglich der Vermittlung von Lesestrategien explizit auf die Ergebnisse der neurophysiologischen Forschung, genauer der operativen Lerntheorie zurückgegriffen, die Lernen als Veränderung von Aktivitätsmustern bzw. als Bildung von neuen Verbindungen dieser Aktivitätsmuster begreift (vgl. Grzesik 2005).
Lernen ist demnach ein Prozess, in dem neue neuronale Verknüpfungen erworben werden, die anschließend fortlaufend vollzogen werden können. Durch die gleichzeitige Aktivität von Nervenzellen werden Prozesseinheiten als Verbindungen im Aktivitätsmuster gebildet und durch Wiederholung verstetigt, so dass sie feste Schaltmuster in Zellverbänden bilden. Lernen ist damit als eine prozesshafte Veränderung von Mustern zu verstehen, die von der einmaligen Ausführung einer Aktivität über wiederholtes Üben bis hin zur Automatisation reicht, so dass solche Aktionen zu Schemata verfestigt werden (vgl. Grzesik 2005).
Bezogen auf den Erwerb von Lesestrategien heißt dies, dass sie zunächst bewusst erlernt und deren Anwendung dann wiederholt trainiert werden muss, damit sich diese Aktivitätsmuster verstetigen und weiterführend auch für die Planung, Steuerung und Kontrolle von Verstehensverläufen anderer Texte eingesetzt werden können.

Daraus ergeben sich für ein zielführendes Lesestrategietraining folgende Phasen:
In der Phase der Akquisition findet die erstmalige Begegnung mit einer Lesestrategie statt. Diese wird vorgestellt, ihre Anwendung wird angeleitet, Funktion und Bedeutung der einzelnen Strategien werden reflektiert und anschließend gelernt.
In der Phase des Behaltens geht es um eine wiederholende und regelmäßige Anwendung, ein Eintrainieren der Lesestrategien und des entsprechenden Regelwissens.
Die Phase der Reaktivierung schließlich meint den Transfer, so dass Lesestrategien nun also selbstständig in unterschiedlichen Situationen und bei unterschiedlichen Texten angewendet werden können (vgl. Grzesik 2005).


Neben dem Training textverstehender Operationen bis zum sicheren, automatisierten Einsatz von Lesestrategien für bestimmte Lesezwecke muss auch das Metawissen über die einzelnen anzuwendenden Strategien aufgebaut werden, so dass die Reflexion über den Verstehensprozess und den Einsatz der Lesestrategien angeregt wird. Dadurch werden die Schülerinnen und Schüler befähigt, Strategien dem Leseziel entsprechend auszuwählen, anzuwenden und ihren Verstehensprozess metakognitiv zu überwachen. Die damit verbundene sukzessiv verlaufende Übernahme von Verantwortung für den eigenen Verstehensprozess führt auch zu einer Steigerung von Aufmerksamkeit, Interesse und Ausdauer, die entscheidend für das Textverständnis sind.

Um diesen Prozess im Unterricht zu unterstützen, wird im Rahmen des Fachprojekts Deutsch auf den Cognitive-Apprenticeship-Ansatz zurückgegriffen, der durch vier Lehr-Lernprozesse gekennzeichnet ist: Modelling, Scaffolding, Coaching, Fading (Collins, Brown & Newmann 1989; Collins, Brown & Holum 1991):

  • Modelling

    Zur Vermittlung der Lesestrategie(n) tritt die Lehrkraft als Lesemodell auf und demonstriert die Anwendung der Lesestrategie(n) und ihrer jeweiligen Teilschritte. In der weiterführenden Schule kann dies mit der Methode des Lauten Denkens umgesetzt werden. Dabei liest die Lehrkraft einen Text laut vor und verbalisiert ihre Gedanken während des Lesens und der Anwendung der zu vermittelnden Lesestrategie. In den Grundschulen wird das Modelling in ein Storytelling eingebettet, das für jüngere Kinder möglicherweise leichter zugänglich ist. Die Modellierung zielt vor allem darauf, die Schülerinnen und Schüler an den kognitiven und metakognitiven Prozessen guter Leserinnen und Leser während des Textverstehens und der Anwendung der Lesestrategie(n) teilhaben zu lassen und diese nachvollziehen zu können. Darüber hinaus unterstützt das Modelling auch den Aufbau des metakognitiven Wissens zur Funktion und Relevanz der Lesestrategie(n) sowie die adäquate Anwendung der entsprechenden Lesestrategie und der einzelnen Teilschritte.

  • Scaffolding

    Das Lesetraining sollte kontinuierlich durch Scaffolding-Maßnahmen unterstützt werden. So wird die erste eigenständige Anwendung einer neu gelernten Lesestrategie durch eine detaillierte Aufgabenstellung eng angeleitet, aus der z. B. genau hervorgeht, welche Informationen wie als wichtig hervorgehoben werden sollen. Im weiteren Verlauf des Trainings werden diese Aufgabenstellungen immer offener, also weniger explizit, so dass die eigenständige Anwendung der Lesestrategie(n) sukzessive gefördert wird.
    Zudem kommt differenziertes Unterrichtsmaterial zum Einsatz, das individuell an die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler angepasst wird. Differenziert werden können die Arbeitsblätter z. B. auf sprachlicher Textebene, im Bereich des Layouts und in den Formulierungen sowie im Umfang der Aufgabenstellungen. Für einen differenzierenden Umgang mit der Heterogenität der Schülerinnen und Schüler, auch in Bezug auf verschiedene sonderpädagogische Förderschwerpunkte, können darüber hinaus additive Lernhilfen wie Bilder, Glossare usw. und / oder Maßnahmen der Lernunterstützung im Bereich der Unterrichtsmethoden und des Classroom-Managements zielführend sein.

  • Fading

    Ziel des Lesestrategietrainings ist der eigenständige, selbstregulierte und automatisierte Umgang mit den Lesestrategien. Dazu ist es notwendig, dass die Schülerinnen und Schüler sukzessive die Verantwortung für ihren Lese- und Verstehensprozess übernehmen und die Lehrkraft mit ihrer dezidierten Anleitung und unterstützenden Begleitung allmählich in den Hintergrund tritt. Methodisch haben sich diesbezüglich vor allem Formen des Kooperativen Lernens als hilfreich erwiesen, bei denen die Schülerinnen und Schüler zunächst in Kleingruppen Verantwortung für ihren Umgang mit den Texten und ihr Verstehen übernehmen müssen.

  • Coaching

    Während des gesamten Trainings ist die Lehrkraft ständig gefordert, die individuellen Fortschritte der Schülerinnen und Schüler zu beobachten, zu bewerten und mögliche Herausforderungen zu erkennen, um ihnen – wenn nötig – angemessene Hilfestellungen geben zu können, die wiederum in unterschiedliche Kategorien der lernunterstützenden Maßnahmen eingeordnet werden können.