Losen ist der Extremfall des Entscheidens. Beim Losen wird die Entscheidung von jeder Abwägung der Optionen radikal getrennt, die Entscheidung als Ereignis sinnfällig inszeniert und die Kontingenz des Entscheidens dramatisch betont. Eine Entscheidung auszulosen heißt, sie zu externalisieren, indem man sie entweder dem blinden Zufall oder dem göttlichen Willen anheimstellt und sie so auf einer den Akteuren selbst nicht verfügbaren Ebene ansiedelt. Dass beim Losen darauf verzichtet wird, die Optionen abzuwägen, heißt keineswegs, dass das Losen selbst irrational wäre – das Los kann vielmehr ein sinnvoller und zweckmäßiger Verfahrensmodus sein. Denn das Los – ein „organisierter Zufall“ (Goodwin) – entkoppelt die Entscheidung zwar von jeder Deliberation, aber immer nur innerhalb eines bestimmten Rahmens, auf den man sich zuvor geeinigt hat. Innerhalb dieses Rahmens wird durch das Los vollständige Chancengleichheit der Optionen hergestellt und von allen tatsächlichen Unterschieden abgesehen. Das kann etwa dazu dienen, eine Entscheidung gegen Einflussnahme Dritter abzuschirmen, Gleichheit unter den Losenden herzustellen und ihre korporative Einheit zu bekräftigen oder den Ausweg aus einer Pattsituation zu eröffnen.
Heutzutage erscheinen Losverfahren befremdlich: Wer vorschlägt, eine Entscheidung auszulosen, meint das meist als indirekte Kritik an der Irrationalität bestehender Entscheidungsverfahren. In Mittelalter und Früher Neuzeit hingegen wurde auf das Los in ganz verschiedenen Kontexten und Entscheidungssituationen zurückgegriffen. Das wirft die Frage nach seiner kulturspezifischen sozialen Logik auf. Das Projekt ging von der Annahme aus, dass der unterschiedliche Umgang mit dem Los einen Schlüssel zu unterschiedlichen Kulturen des Entscheidens bietet. Wir untersuchten die Anwendung von Loselementen im Rahmen kollektiver Entscheidungsverfahren in Mittelalter und Früher Neuzeit und fragten nach deren jeweiligen Voraussetzungen, Rahmenbedingungen, Zielen und Effekten. Das Teilprojekt konzentrierte sich zum einen auf die Wahlen zu geistlichen Ämtern (Unterprojekt A; Bearbeiter: Fabian Erben) und zum anderen auf die städtischen Ratswahlen in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (Unterprojekt B; Bearbeiter André Stappert). Es ging uns darum zu analysieren, wann, wie und warum das Los in komplexere Entscheidungsverfahren eingebettet wurde, welche symbolischen und instrumentellen Funktionen es hatte und was das über die betreffende spezifische Kultur des Entscheidens aussagt.