Fake News lange vor Trump
Forschungen am Exzellenzcluster über Fake News im Mittelalter – Tagung der Literatur- und Geschichtswissenschaft über Falschmeldungen und ihre kulturelle Aushandlung im europäischen Mittelalter – „Ob höfische Komplotte oder Verschwörungstheorien angesichts der Pest: Fake News verunsicherten lange vor Massenmedien“ – Ergebnisse in Podcastfolge 8
Pressemitteilung vom 28.06.2021
Fake News gab es Forschern zufolge schon lange vor Donald Trump und den sozialen Medien. Ob höfische Komplotte oder Verschwörungstheorien angesichts der Pest: Die Verunsicherung über den Wahrheitsgehalt von Nachrichten ist Wissenschaftlern des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Universität Münster zufolge kein neuartiges Phänomen. „In Krisenzeiten konnte das Aushandeln von wahren und falschen Informationen seit jeher lebhafte Dynamiken entfalten. Dies gilt auch für das Mittelalter, obwohl die Kommunikation in dieser Zeit viel stärker leibhaftige Anwesenheit voraussetzte“, erläutern die Romanistin PD Dr. Pia Claudia Doering und der Historiker Dr. Marcel Bubert vom Exzellenzcluster. „Das Verbreiten von Fake News und Einschätzen des Wahrheitsgehaltes von Nachrichten ist entgegen heutiger Vorstellungen nicht zwingend an Massenmedien gebunden.“
Doering und Bubert richten ab Donnerstag eine Tagung zu Fake News im Mittelalter aus. „Beim wissenschaftlichen Blick zurück geht es nicht um die Frage, was heute erkennbar ‚falsch‘ ist, wie etwa Meldungen über monsterhafte Wesen oder Hexen“, führt Marcel Bubert aus. „Wir fragen vielmehr nach Bedingungen, unter denen Geltungs- und Wahrheitsansprüche akzeptiert oder abgelehnt wurden.“ Die Tagung „‚Ich weiß nicht, wer wahr sagt, wer lügt‘ – Fake News und ihre kulturelle Aushandlung im europäischen Mittelalter“ am 1. und 2. Juli via Zoom eröffnet geschichts- und literaturwissenschaftliche Perspektiven auf mittelalterliche Aushandlungen von Wahrheit und Lüge. Das thematische Spektrum reicht von Wahrheitskonstruktionen in Romanen um den legendären König Artus und seine Ritter der Tafelrunde, Reflexionen des Autors Michel de Montaigne (1533-1592) über die Lüge, antijüdischen Ritualmord- und Verschwörungsvorwürfen bis hin zu damaligen Kontroversen über Astrologie.
„Die Literatur ist traditionell mit dem Vorwurf konfrontiert, ihre Fiktionen seien Lug und Trug“, führt Pia Claudia Doering aus. Die Verteidigung gegen solche Vorwürfe führe zu einer tieferen Reflexion über das Verhältnis von wahr und falsch. Literarische Texte tragen der Wissenschaftlerin zufolge entscheidend zur Entwicklung von Verfahren bei, die die Grenzen zwischen Geschichtsschreibung und Dichtung, zwischen Wahrheit und Fiktion ausloten. „Wir bringen deshalb Literaturwissenschaftler und Historiker zusammen. Wir diskutieren gemeinsam über sprachlich-rhetorische und mediale Strategien der Evidenzproduktion.“
Über Fake News im Mittelalter erscheint im Vorfeld der Tagung eine neue Folge des Forschungspodcasts „Religion und Politik“ zum Themenjahr „Zugehörigkeit und Abgrenzung“ des Exzellenzclusters mit vielen historischen Beispielen – etwa einer Kampagne des französischen Königs Philipps des Schönen gegen die Tempelritter, einem geistlichen Ritterorden, dem er schwerwiegende Verbrechen wie Sodomie und Ketzerei unterstellte. Das Vorgehen gegen den Templerorden sorgte zu Beginn des 14. Jahrhunderts in ganz Europa für Aufsehen, weckte nach den Schilderungen von Marcel Bubert aber auch Skepsis: Manche Zeitgenossen vermuteten, der König handle allein aus Habgier, was dieser dementierte. „Der Hof gerät nun in die Lage, kursierende Nachrichten über die wahren Absichten des Königs als falsch deklarieren zu müssen. Das ist bemerkenswert.“ Angesichts dieser Konkurrenzsituation zwischen verschiedenen Behauptungen seien viele Zeitgenossen verunsichert gewesen über den Wahrheitsgehalt verbreiteter Nachrichten. Ein französischer Chronist drückte es prägnant aus: „Ich weiß nicht, wer wahr sagt, wer lügt“.
Pia Claudia Doering und Marcel Bubert plädieren mit Blick auf solche Befunde dafür, Fake News nicht allein als aktuelles Phänomen zu betrachten, wie es in der öffentlichen Meinung häufig der Fall sei. Manche Forscherinnen und Forscher führten den gegenwärtigen „flexiblen Umgang mit Fakten“ auf ein postmodernes Denken zurück, das Wahrheit als soziale Konstruktion verstehe, andere sähen vor allem den digitalen Medienwandel ausschlaggebend für die veränderte Produktion von Wahrheiten. „Wenn wir aktuell in einer postfaktischen Ära leben, wie in der medialen Diskussion oft behauptet wird, müsste es ja ein faktisches Zeitalter gegeben haben, in dem der Umgang mit Nachrichten ganz anders funktioniert hat“, so Marcel Bubert. „Die Situation, dass eine Vielfalt von Wahrheitsangeboten die Welt unübersichtlicher macht, ist aber nicht grundlegend neu, auch in viel früheren Zeiten mussten die Menschen mit konkurrierenden Wahrheitsansprüchen umgehen.“
Gerade konflikthafte Ereignisse wie Seuchen, Kriege oder der Tod eines Herrschers waren oft von Gerüchten begleitet, wie die Forscher darlegen. Teilweise wurden Gerüchte geschürt und lösten aufgrund ihrer politischen Brisanz spektakuläre Deutungskämpfe aus. „Die Nachrichten verbreiteten sich über reisende Händler, Spielleute, Pilger und Prediger sowie durch Briefe und Flugblätter – für damalige Verhältnisse durchaus in rasantem Tempo“, erläutert Marcel Bubert. Lange vor der Covid-19-Pandemie sorgten Verschwörungstheorien angesichts der großen Pestwelle im 14. Jahrhundert für Irritationen. Das Gerücht, die Pest sei auf Brunnenvergiftungen durch Juden zurückzuführen, wies Papst Clemens VI. höchstselbst mit dem Hinweis zurück, schließlich seien auch Juden an der Pest gestorben.
Auch die Literatur der Zeit sagt viel über den Umgang mit Falschmeldungen, wie Pia Doering darlegt. Mittelalterliche Dichter wie Dante Alighieri (1265-1321), Francesco Petrarca (1304-1374), Geoffrey Chaucer (um1342-1400) oder auch Christine de Pizan (1364-nach 1429) erkennen den immensen Einfluss von Gerüchten, Halbwahrheiten und Falschmeldungen. Sie verwandeln ihre Beobachtungen in anschauliche Bilder: Das Gerücht wird in antiker Tradition als fliegender Dämon gedacht, dessen Körper über und über mit Augen, Ohren, Mündern und Zungen versehen ist. Im „Rosenroman“, dem einflussreichsten Werk der französischen Literatur des Mittelalters, deckt die Figur des Falschen Scheins als vollkommener Verstellungskünstler die Mechanismen religiöser Heuchelei auf. Somit zeigen, trotz gänzlich anderer medialer Voraussetzungen, die mittelalterlichen Deutungskämpfe um wahr und falsch starke Analogien zur Gegenwart. Parallelen, aber auch Unterschiede, werden auf der Tagung aus literatur- und geschichtswissenschaftlicher Perspektive in den Blick genommen. (apo/vvm)
Literaturhinweise:
Marcel Bubert, „Verschwörungstheorien und Fake News vor der Aufklärung? Zur Formierung von Zeichenskepsis, Heucheleidiskurs und Konspirationismus im europäischen Spätmittelalter.“ In Prekäre Fakten, umstrittene Fiktionen. Fake News, Verschwörungstheorien und ihre kulturelle Aushandlung, herausgegeben von Podskalsky Vera, Wolf Deborah, Berlin 2021, 77-103.
Pia Claudia Doering (Hg.), Verstellungskünste. Religiöse und politische Hypokrisie in Literatur und bildender Kunst, Bielefeld 2021 (im Erscheinen).