(B2-4) „Die ukrainische Bastion“ – Vormauer Europas und antemurale christianitatis. Nationalisierung eines Mythos
Die Studie untersucht Ursprung, Entwicklung und die moderne, sowohl religiöse als auch politische Instrumentalisierung des antemurale christianitatis-Mythos in der ukrainischen Geschichte und Gegenwart. Grundlegende Prämisse ist, dass „christliche Bastion“ heute einen politischen Mythos bezeichnet, der aus der komplexen Grenzlage der Ukraine heraus entstanden ist und als Erklärungs- und Legitimationsstrategie in erheblichem Maße zur Bildung des ukrainischen nationalen Selbstverständnisses beigetragen hat. Das Projekt soll nachzeichnen, wie sich im Verlauf historischer Entwicklung die spätmittelalterliche Idee eines antemurale christianitatis im Gebiet der Ukraine in einen politischen Mythos verwandelte, der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer zentralen Komponente des nation building wurde.
Im Vergleich zu Kroatien, Ungarn oder Polen, ihrerseits historische Träger einer „Festungs“-Ideologie, kann man zwei spezifisch ukrainischer Topoi im antemurale-Mythos identifizieren:
- Die ukrainische Situation ist im Hinblick auf den religiösen Faktor erheblich komplexer als in anderen Ländern. In der ukrainischen Geschichte dominieren die Kirchen des byzantinischen, nicht des lateinischen Ritus. Die Rolle der Orthodoxen und der Griechisch-Katholischen Kirchen bei der Bildung von Grenzland-Mythen ist zwangsläufig vielschichtiger als in katholischen Ländern. Die zentrale Frage hier lautet, ob orthodoxe Regionen in ihrer antiosmanischen “Schutzmauer- Funktion“ als gleichwertig mit katholischen Ländern betrachtet werden.
- Eine andere Besonderheit in der ukrainischen Version des „Vormauer-Mythos“ liegt in der historischen Verbindung mit dem Kosakenmythos. Dies ist ein zentrales Element der spezifischen Neuformulierung des antemurale-Mythos und bildet eine immer wiederkehrenden Kernkomponente gegenwärtiger historischer Narrative der Ukraine.
Vor diesem Hintergrund bildet die Untersuchung der Beziehungen zwischen den beschriebenen mythologischen Elementen einschließlich ihrer symbolischen und visuellen Repräsentation (in Denkmälern, fiktionalen Texten, Feiern etc.) und der Bildung einer ukrainischen nationalen Ideologie ein Hauptziel dieses Forschungsprojektes.
Chronologisch umfasst das Projekt den Zeitraum vom Ende des 16. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Es gliedert sich in drei Teile.
- Der erste Teil gilt dem Entstehen der wichtigsten Ausdrucksformen für den kosakischen „Bastions“-Mythos vom Ende des 16. bis ins frühe 18. Jahrhundert. Zu diesem Teil ist die Forschung bereits im Wesentlichen abgeschlossen, einige Ergebnisse sind bereits publiziert.
- Die zweite Schlüsselperiode umfasst das so genannte „lange 19. Jahrhundert“ von den ersten literarischen Texten zum Thema ukrainischer Nationalität am Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. In dieser Zeit bildete der antemurale-Mythos ein wichtiges Element der nationalen Ideologie. Offensichtlich präsentierten verschiedene Gruppen ukrainischer Intellektueller und kirchlicher Würdenträger sowohl im Russischen Reich als auch in Österreich Ungarn im Laufe der Periode der „nationalen Wiedergeburt“, also von der Mitte des 19. bis ins frühe 20. Jahrhundert, neue Prioritäten in der Interpretation der „ukrainischen Bastion“. Um die in ideologischer Perspektive auseinanderdriftenden Teile der Ukraine zusammenzuhalten, wurde etwa die anti-türkische Komponente bewusst in ihrer Bedeutung herabgestuft. Priorität kam stattdessen der Idee des „kosakischen“ ukrainischen Volkes zu, das eine besondere Mission zur Verteidigung religiöser Werte des östlichen Christentums und der europäischen Zivilisation als Ganzes zu erfüllen hat.
- Die Analyse der dritten Periode – von der Mitte des 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart – wertet aktuelle ukrainische Debatten in politischen, intellektuell-kulturellen und kirchlichen Kreisen aus zu Fragen von historischen Mythen, der Zugehörigkeit zu Europa, religiösen und nationalen Identitäten.
Das Projekt ist Teil der Arbeitsplattform H Kulturelle Ambiguität und der Koordinierten Projektgruppe Säkularisierung und Sakralisierung der Medien.