(B2-14) Heiligkeit und politischer Gestaltungsanspruch im Medium von Vita, Brief und Prophetie
Im Kontext der Autorschaftsforschungen wurden in der ersten Förderphase verschiedene Autorentypen und Autorschaftskonzepte des Mittelalters (Schwerpunkt die Prophetin Hildegard von Bingen und ihr Briefcorpus von 390 Epistulae) sowie die Selbstdarstellung von Autoren im Spannungsfeld des Religiösen und Politischen in ausgewählten großen Epistolaren von der Karolingerzeit bis zur Renaissance behandelt. Daran anschließend richtet sich die Fragestellung nun auf eine Gruppe affiner Gattungen, Vita, Brief und Prophetie, die sowohl direkte Aussagen zum Verhältnis von Religion und Politik enthalten, als auch mit ihren je besonderen medialen Möglichkeiten diese Relation modellieren, sei es in Vorbildgestalten, den Akteuren und deren Wirkungskontexten und Lebensräumen (Wüste, Hof, Kloster, Stadt, Krieg) in den prophetischen oder anderen Bildern, in Dialogen von Protagonisten der Texte und vielen anderen literarischen Strategien mehr. Zum Beispiel enthält die hagiographische Vitenliteratur Hunderte von Beispielen, die entweder die radikale Askese und Weltabgewandtheit (Eremitentum) ihrer 'Helden' oder deren Einmischung in das politische Geschehen narrativ entfalten und begründen. Der Märtyrer oder Anachoret wie der Ritterheilige, der heilige Laie wie der heilige Bischof, der Konverse zwischen den Bereichen sind gleichermaßen markante Beispielfiguren. Selbst für eine prominente Gestalt des ottonischen Reichskirchensystems, Ottos I. Bruder Erzbischof Brun von Köln und Herzog von Lothringen, sieht sich sein Viten-Autor veranlasst, in einem eigenen Kapitel die Frage zu erörtern, ob er als Bischof sich in die politischen Geschäfte (res populi et pericula belli) mischen durfte, statt sich allein um das Seelenheil (animarum cura) in seinem Sprengel zu kümmern, gemäß 2. Tim. 2,4: Nemo militans deo implicat se negotiis saecularibus. Immer wieder wird diese Grundspannung thematisiert. Ein Jahrhundert später, in der Zeit des Investiturstreits und der gregorianischen Reform, stilisiert sich umgekehrt Petrus Damiani ganz entschieden als weltabgewandter Eremit, ist zugleich jedoch intensiv in die Geschäfte der großen Politik involviert, wo er aus jenem Status seine Autorität bezieht.
Ähnlich ambivalent ist die Selbst- und Fremddarstellung in anderen Epistolaren und in der prophetischen Gegenwarts- oder Zukunftsdeutung, die bis zu Joachim von Fiore (um 1200) verfolgt werden soll. Von den politischen Prophetien des Asketen Severinus (um 500) im Donaugebiet über die großen Prophetengestalten des Hochmittelalters (Hildegard von Bingen, Bernhard von Clairvaux u. a.) bis zur spätmittelalterlichen aktuell-politischen Apokalypse-Auslegung wird die Interdependenz des Religiösen und Politischen in je charakteristischen Figurationen präsentiert.
Seit der Spätantike hat gerade die Hagiographie ein die antike Rhetorik kontrastierendes eigenes rhetorisches Modell entwickelt, das ich als Devianzrhetorik (bezogen auf Wortschatz, Stilistik und Komposition) bezeichne und das nach dem humiliatio-exaltatio-Prinzip funktioniert. Diese wird in der Praxis entweder rigoros oder in gemäßigter Form befolgt; daher gibt oft schon die sprachliche Faktur der Werke selbst Aufschluss über die im Text vertretene Position (Interdependenz oder Dissoziation).
Auch die aus solchen Texten generierten Bilder, sei es in Textillustrationen oder in textunabhängiger Position, sollen auf ihre figurale Konzeption hin befragt werden (die sich nicht mit der des Textes decken muss). Das Exemplarische oder die symbolische Qualität besonderer Akteure, Räume und Handlungsmuster haben ebenso wie bildliche Prophetien eigene piktorale Typen und Ordnungen provoziert, die in der medialen Vermittlung des Visuellen Positionen markieren im Feld von Religion und Politik.
Von dem zugrunde gelegten Quellen- und Gattungscorpus aus lassen sich innerhalb der Projektgruppe Vergleiche ziehen in Biographik, Epistolographie, Historiographie von der paganen Antike bis zur Frühen Neuzeit (Figurationen von Akteuren). Entsprechendes gilt für die Konzeption von Bildmustern oder von spezifisch literarischen, fiktionalen Diskurstypen und Narrativen (wie Rückzug aus der Welt, Konversion, Gotteskriegerschaft u. a. m.). Die kulturelle Signifikanz von Akteuren, Räumen, Handlungen, Bildern, Sprachformen der Textüberlieferungen ist so für das Verhältnis von Religion und Politik vergleichend herauszuarbeiten.
Schon jetzt ist erkennbar, dass die Differenziertheit der religiösen und politischen Sphäre durchgehend bewusst war und dass auch Konzepte und Konstellationen der Interdependenz und Dissoziation nach verschiedenen Interessen und Situationen nebeneinander vertreten wurden.