SprachRäume. Religiöse Texte als Ressource im kolonialen Kontext
Interview mit Arabistin Dr. Ines Weinrich über digitale Methoden in der Analyse von religiösen Gründungsmythen
In dem mit dem Exzellenzcluster assoziierten Projekt „Hindu-Muslim-Jewish Origin Legends in Circulation between the Malabar Coast and the Mediterranean, 1400s–1800s” werden Gründungsmythen an der Südwestküste Indiens untersucht und es entsteht eine mehrsprachige digitale Edition ausgewählter Erzählungen sowie eine interaktive Karte imaginierter religiöser Landschaften. In dem binationalen Projekt arbeiten bis zu sechs Forschende an der Universität Münster und der University of Glasgow an der Erschließung und Analyse multilingualer Texte. Finanziert wird das Forschungsprojekt auf britischer Seite durch den Arts and Humanities Research Council (AHRC) und auf deutscher Seite durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), geleitet wird es durch die Indologin Dr. Ophira Gamliel (Glasgow) und die Arabistin Dr. Ines Weinrich (Münster).
Was ist der Gegenstand Ihres DH-Projektes und welche Frage soll es mittels DH-Methoden beantworten?
Wir erschließen und analysieren Gründungsmythen von hinduistischen, muslimischen und jüdischen Gemeinschaften an der Südwestküste Indiens. Die drei genannten Gemeinschaften lebten dort unter hinduistischer Herrschaft, was sich mit der Ankunft der europäischen Handelsflotten – ab 1498 zunächst Portugiesen, dann Niederländer und Briten – änderte. Zunächst sind wir erst einmal dabei, das Textkorpus mittels digitaler Methoden zu erschließen und dieses anschließend zu visualisieren. Unter Anwendung digitaler Methoden sollen die Gründungsmythen vergleichbar gemacht werden, um Fragen nach religiöser Markierung zu beantworten und schlussendlich die Rolle von Religion in den sich ab dem 16. Jh. ändernden Handelsnetzwerken zu analysieren.
Wie sehen die DH-Methoden konkret aus, wenn Sie sie in Ihrem Projekt anwenden?
Unsere Textgrundlage besteht aus sieben Texten in drei Sprachen: Malayalam, Arabisch und Hebräisch. Wir arbeiten mit Manuskripten, und diese wiederum bestehen aus ganz unterschiedlichen Materialien: Palmblättern, Papier und Pergament. Diese Sprachen, Materialien und Formen führen wir in einer kommentierten digitalen Edition und englischen Übersetzung zusammen. Dabei werden einzelne Entitäten kodiert, wie zum Beispiel religiöse Titel oder Abstrakta wie „Glaube“ oder „Konversion“. Solche Begriffe können dann über verschiedene Sprachen und Religionsgemeinschaften hinweg abgerufen und analysiert werden. Die digitale Edition macht es aber auch möglich, Textvarianten zwischen einzelnen Manuskripten und Erzählungen darzustellen. Das soll uns helfen, die einzelnen Manuskripte und Erzählungen zeitlich einzuordnen. Schließlich wenden wir noch ein weiteres digitales Werkzeug an: Da die Erzählungen heilige Orte, Reisen und Handelsstädte beschreiben, bietet es sich an, diese imaginierten religiösen Landschaften durch eine interaktive Karte darzustellen.
Wie werden oder wurden diese Methoden entwickelt: ganz oder teilweise für Ihr Projekt?
Unsere digitale Edition basiert auf dem TEI Standard, und für die Erstellung unserer Dokumente benutzen wir den oXygen XML Editor. Diese Software wird an die Bedürfnisse unseres Projekts angepasst bzw. es werden zusätzliche Tools entwickelt. oXygen ist notwendig, weil wir mit verschiedenen Schriftsystemen arbeiten. Dabei werden wir eine ähnliche Version benutzen, wie sie Dr. Christian Lück vom SCDH im DFG-Langfristvorhaben der Arabistik über den Dichter Ibn Nubatah entwickelt hat. Auszeichnungen in der Edition sollen dann auf der Karte dargestellt werden. Dabei können wir unsere Daten aus den Texten mit Normdatenbanken verbinden, aber nicht alle: Manche Orte lassen sich nicht zweifelsfrei identifizieren, und auch das soll auf der Karte abgebildet werden.
Welche Ergebnisse liegen bereits vor, welche erwarten Sie? Wie sähe dieselbe Forschungsarbeit ohne DH-Methoden aus?
Wir gehen davon aus, dass die Gründungsmythen, die textlich instabil sind, die geopolitischen Spannungen und wechselnden Allianzen zwischen einheimischen Gemeinschaften und europäischen Mächten bzw. einheimischen Gemeinschaften untereinander widerspiegeln. Eine erste Lesung scheint dies zu bestätigen, aber es ist noch zu früh, endgültige Schlüsse zu ziehen, weil wir noch mitten in der Texterschließung sind. Ohne digitale Methoden wäre der Vergleich der Texte deutlich aufwendiger. Doch nicht nur hinsichtlich der Analyse religiöser Markierungen, sondern auch für die grundlegende philologische Arbeit sind die digitalen Methode ein Gewinn: Textvarianten können für uns wie auch alle anderen, die die Edition später nutzen, mit einem Klick dargestellt werden, ohne dass man durch Seiten blättern, zwischen Fußnoten springen oder mehrere Texte nebeneinander legen muss. Dasselbe gilt für Anmerkungen. Schließlich gibt es einen weiteren Vorteil: Wir können weitere Texte und Sprachen in einem Anschlussprojekt in die Analyse integrieren, denn wir haben für das Pilotprojekt nur eine Auswahl an Erzählungen getroffen.
Worin liegt die heutige gesellschaftliche Relevanz dieser Forschungsarbeit, worin liegt diesbezüglich der Wert der DH-Methoden?
Ein Großteil unserer Texte wird zum ersten Mal für die Forschung zugänglich gemacht, sowohl durch die Edition der Manuskripte als auch durch die Übersetzungen. Damit stehen die Texte erstmals einer breiteren akademischen und nicht-akademischen Öffentlichkeit zur Verfügung. Uns ist besonders wichtig, dass auch die Angehörigen der untersuchten Gemeinschaften Zugang zu den Daten und unseren Ergebnissen haben. Dies wird durch die FAIR Data Prinzipien und die open-access Veröffentlichung sichergestellt. Die Daten können also von der Wissensgemeinschaft weltweit verwendet werden, entweder um neue Texte anzufügen oder um sie auf neue Forschungsfragen anzuwenden. Die von uns erarbeiteten Daten zu Personen und Orten können in Normdatenbanken eingespeist werden und so ganz praktische zur Generierung von Wissen beitragen. Der historische Blick auf das Zusammenleben religiöser Gemeinschaften ist auch für die Gegenwart relevant. Von der heute in Indien dominierenden nationalistischen Ideologie wird die gemeinsame hinduistisch-muslimische kulturelle Vergangenheit gerne ausgeklammert. Auch ist es wichtig, dem kolonialen Blick, der die einzelnen Religionen als homogene Einheit begreift, die heterogenen Stimmen entgegen zu stellen, die aus den Erzählungen sprechen. Religiöse Identitäten scheinen in der Vergangenheit fluider gewesen zu sein als gemeinhin angenommen. (exc/pie/tec)