Sichtbarkeit des Unsichtbaren: ein Heiliger bittet im Himmel für die Opfer der Pest auf der Erde
Von Kunsthistoriker Dr. Jens Niebaum
1656 wurde Neapel von einer besonders schweren Pestepidemie heimgesucht, der binnen vier Monaten knapp die Hälfte der Einwohner zum Opfer fielen. Viele der Toten wurden außerhalb der Mauern in eilig angelegten Massengräbern bestattet, darunter der Grotta degli Sportiglioni, wo einem Chronisten zufolge nicht weniger als 60.000 Menschen beerdigt wurden. An diesem Ort des Schreckens ließen mehrere Bürger und Zünfte sowie der Vizekönig von Neapel zwischen 1657 und 1662 eine der Madonna del Pianto (Hl. Maria des Weinens) geweihte Kirche errichten, in der Seelenmessen für die oftmals ohne Sterbesakramente Begrabenen gelesen werden sollten. Sie erhielt drei Altarbilder, darunter die Fürbitte des hl. Januarius für das Ende der Pest des damals noch jungen, später in ganz Europa gefeierten neapolitanischen Malers Luca Giordano.
Das Bild ist in mehreren, komplex miteinander verschränkten Ebenen aufgebaut. Zuunterst erscheinen Szenen, wie sie sich während der Epidemie täglich an Orten wie der Grotta degli Sportiglioni abgespielt haben müssen. Im Vordergrund stapeln sich die Leichen, Mann und Frau, Jung und Alt: eine Mutter, von ihrem Baby beweint, ein Kind mit offenem Mund und aufgedunsenem Bauch, auf dem ein blutiges Tuch klebt, ein kopfüber liegender Mann, an dessen Oberschenkel eine blutige Pestbeule klafft, ein eingewickelter Toter, dessen Kopf unter einem drohend aufragenden Sarg verschwindet. Hinter seinen blanken Füßen erblickt man einen muskulösen Totengräber mit nacktem Oberkörper, dem ein um die Nase gebundenes Tuch – scheinbar eine Vorform heutiger Mund-Nase-Bedeckungen – wenigstens etwas Schutz vor dem Gestank bietet. Hinter ihm schleppt ein Kollege auf dem Rücken einen kopfüber hängenden Toten im Leichentuch, während ein gerade aus dem Stadttor herausfahrender Planwagen weitere Leichen heranfährt. Die Seuche wird hier in ihren sichtbaren physischen und sozialen Auswirkungen vorgeführt: Deformation und Entmenschlichung der Opfer, Schrecken und Trauer der Hinterbliebenen, schließlich die im Wortsinne Knochenarbeit der Totengräber.
Über diesem Schreckensszenario ändert sich die Tonlage. Auf Wolken erscheinen hier, der Höhe nach gestaffelt, mehrere Figuren: Zur rechten im mittleren Register kniet der hl. Januarius, der Stadtpatron Neapels, im bischöflichen Ornat und bittet für seine geschundene Stadt. Putten halten die ehrerbietig abgesetzte Mitra sowie das Ostensorium der berühmten Ampullen seines Blutes als Unterpfand himmlischer Gnade. Der Heilige wendet sich an Maria links oben, die seine Fürbitte mit gefalteten Händen an den kreuztragenden Christus in der oberen Bildmitte weiterträgt. Was hier dargestellt wird, ist eine gestufte Interzession, vom Stadtpatron über die wichtigste Fürbitterin und ‚Mit-Erlöserin‘ (corredemptrix) Maria an ihren göttlichen Sohn. Indem dieser als Träger des Kreuzes – in dem die Nagellöcher deutlich sichtbar sind – dargestellt wird, ist der Akzent ebenso auf sein eigenes Leiden wie auf das Instrument der Erlösung gesetzt. Der Effekt dieser Interzession wird im oberen rechten Eck visualisiert, wo ein Engel das gezogene Schwert wieder in die Scheide steckt: ein Bild für das Ende der Epidemie, das letztlich auf den biblischen Bericht von der Pest zur Zeit Davids (1 Chr. 21:27) zurückgeht.
Das eigentliche Thema des Bildes ist also nicht die Pest selbst, sondern vielmehr jener ‚Mechanismus‘ von Fürbitte und Erhörung, der nach verbreiteter Auffassung das Ende der Epidemie herbeigeführt hat. Wie hat nun der Maler diese der Anschaubarkeit entzogenen Vorgänge sichtbar gemacht? Zunächst ist festzustellen, dass der Maler die kategoriale Andersartigkeit von himmlischer und irdischer Sphäre deutlich kennzeichnet. Schon die Wolken markieren unübersehbar den konstitutiven Wirklichkeitsbruch, den das Kolorit der Figuren nachdrücklich verstärkt: Christus sowie der Racheengel werden vor bzw. auf der Höhe des göttlichen Lichts gleichsam zu lichtdurchtränkten Erscheinungen, während die auf einer mittleren Ebene zwischen göttlichen und irdischen Figuren angesiedelten Fürbitter Maria und Januarius in vergleichsweise kräftigen Farben erscheinen. Unter ihren Wolken sind die Toten hingegen anschaulich in tiefen Schatten gehüllt. In nur vordergründig paradoxer Weise werden also die irdischen Toten gleichsam dematerialisiert, die immateriellen der himmlischen Sphäre hingegen substantialisiert – und somit als die Protagonisten des eigentlichen Geschehens sichtbar gemacht.
So deutlich mithin irdische und himmlische Sphäre separiert sind, so nachdrücklich ist doch auf der anderen Seite die für das Geschehen konstitutive Permeabilität dieser Grenze markiert. So dringt hier und da ein Lichtschein in das Schattenreich unter den Wolken und sorgt für chiaroscuro-artige Effekte. Aber auch darüber hinaus bindet Luca Giordano irdische und himmlische Welt bildkompositorisch aneinander. So sind Christus, Maria und Januarius durch die Abfolge von Blick- und Gebetsrichtungen in einer Zick-zack-Linie verbunden. Diese setzt sich aber in der Armbewegung des Totengräbers und dem Unterschenkel des vor ihm liegenden Toten unübersehbar in der irdischen Welt fort. Und eine weitere Kompositionslinie führt vom Querbalken des Kreuzes Christi schräg über Oberkörper und Stola des Januarius bis zum tief verschatteten Toten in der rechten unteren Bildecke hinab. Die Rolle des Heiligen als Fürbitter Neapels wird auch auf diese Weise eindrücklich sichtbar gemacht. Und zugleich wird der Bezug zum Ort des Bildes unterstrichen, an dem eine kaum vorstellbar große Zahl verstorbener Neapolitaner, unsichtbar im Massengrab unter der Kirche verscharrt, die Früchte der liturgisch vollzogenen und hier bildlich dargestellten Fürbitte zu ernten hoffte.