Umgang der Religionen mit der Corona-Krise: Evangelische Kirchen und ihr Umfeld
Ein Gastbeitrag von Historiker und Theologe Dr. Johannes Wischmeyer
Johannes Wischmeyer ist promovierter Historiker und Theologe und als Oberkirchenrat beim Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verantwortlich für Studien- und Reformfragen der Kirche.
Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat wohl kein Ereignis die evangelischen Kirchen in Deutschland umfassender beschäftigt und für ihre Selbst- und Fremdwahrnehmung eine höhere Rolle gespielt als die gegenwärtige Corona-Pandemie. Aktuelle Studien und Lageberichte helfen, einen ersten analytischen Blick auf die Entwicklungen seit Anfang März 2020 zu gewinnen.
1. Vermeidung theologischer Krisendeutung: Verkündigungsmuster im kirchlichen Mainstream
Seit Beginn der Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das öffentliche Leben in Deutschland stand der seelsorgerliche Zuspruch im Zentrum der öffentlichen Kommunikation kirchlicher Repräsentanten auf allen Ebenen. Die Versuche religiöser Sinngebung konzentrierten sich überwiegend auf das glaubende Subjekt mit seiner Erfahrung von Vereinsamung und Verlust der Handlungsmacht. Der Versuch, das Erlebte systematisch im Rahmen der dogmatischen Glaubensgrundsätze zu erklären, wurde demgegenüber deutlich seltener unternommen1.
Insbesondere aus dem lutherisch-konservativen Lager gab es daraufhin Vorwürfe, der offizielle Protestantismus ziehe sich auf „kulturprotestantische Belanglosigkeiten“ zurück, wenn lediglich der gemeinwohldienliche Verzicht auf alle Gemeinschaftsaktivitäten als kirchlicher Solidaritätsbeitrag in der Krise hervorgehoben würde2. Mit dem Traditionsbestand lutherischer Theologie wäre die Pandemie als „Widerfahrnis“ der Ambivalenz des Gotteshandelns zu deuten, die subjektive Erfahrung des nicht ethisch qualifizierten Übels als Moment der „Anfechtung“3. Die dialektischen Interpretationsmuster, mit denen lutherische Theologen in der Vergangenheit den alten Deutungskonflikt zwischen Allmacht und Güte Gottes eingehegt hatte, haben jedoch offenbar an Überzeugungskraft verloren. Stattdessen haben leitende evangelische Kirchenvertreter erklärt, die Pandemie sei dezidiert nicht als „Strafe Gottes“ zu betrachten4. In Aufnahme der christozentrischen Theologie Karl Barths wird Gottes Rolle hier vielmehr als die eines der Menschheit in Schwachheit verbundenen liebenden Begleiters gesehen5.
Der Tenor der Verkündigung im evangelischen Mainstream zielte dementsprechend darauf, individuelle Ambiguitätstoleranz einzuüben, ein eher abstraktes Gemeinschafts- und Solidaritätsideal wachzuhalten, nicht aber, auf der kognitiven Ebene zur religiösen Kontingenzbewältigung beizutragen6. Erste nicht repräsentative Untersuchungen der in der landeskirchlichen Onlineverkündigung verwendeten Predigtsprache weisen darauf hin, dass sich die Verkündigungssemantik im Verlauf der zehn Wochen des Lockdowns deutlich beruhigte. Wortfelder wie „Panik“ und „Furcht“ traten in den Hintergrund. Insgesamt war in einem untersuchten Corpus von 450 Online-Video-Predigten die „Vertrauen“-Semantik doppelt so häufig vertreten wie die Semantik der „Krise“ – ein genaues Gegenbild zur Häufigkeit, mit der diese Begriffe in den Talkshows des öffentlich-rechtlichen Fernsehens verwendet wurden7.
2. Institutionelle Selbstthematisierung und Innovation. Religiöse Praxis und begleitende Diskurse während der Krise
Im Zuge der behördlichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens erfuhren die Kirchen eine beispiellose Aussetzung ihrer gruppenbezogenen Aktivitäten. Obgleich der gesamte, überaus weite Kreis sozialer Zusammenkünfte betroffen war und teilweise nach wie vor ist, stand zunächst vor allem der erzwungene Verzicht auf den in gemeinsamer physischer Präsenz gefeierten Gottesdienst im Blickpunkt. Aufbauend auf der – lokal und regional sehr unterschiedlich hohen – digitalen Kompetenz, die kirchliche Institutionen in den vergangenen zwei Dekaden erworben haben, kam es unter dem Eindruck der Krise auf dem Feld der Verkündigung zu einem regelrechten „Digitalisierungsschub“, also zu einem Engagement in Sachen digitaler Verkündigungsangebote, das nach Selbsteinschätzung der Anbieter über die Krisendauer hinausreichen soll8.
Die hier aktiv gewordenen Kirchengemeinden konnten die Teilnehmerzahl bei digitalen Gottesdiensten gegenüber dem klassischen Sonntagsgottesdienst im Durchschnitt um mehr als das Dreifache steigern. Der Trend geht klar von textgebundenen Inhalten zu audiovisuellen Formaten auf einer Vielzahl sozialer Plattformen, vor allem auf Youtube. Zwar kam der Anstoß zu diesen Angeboten mehrheitlich von der zuständigen Pfarrerin oder dem Pfarrer, die eher zeit- als kostenintensive Umsetzung wurde jedoch beinahe immer als Teamwork gemeinsam mit Ehrenamtlichen realisiert. Hier ergeben sich Anknüpfungsmöglichkeiten gegenüber einer Generation, die ihre Bereitschaft zu ehrenamtlicher Tätigkeit mit der Forderung nach einer partizipatorischen Ausgestaltung sowie zeitlich und inhaltlich selektivem Engagement verknüpft9. In der Kar- und Osterzeit erfuhren auch die klassischen bundesweiten und überregionalen Fernsehgottesdienste im öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehen und Radio viel höheren Zuspruch als sonst. Neue Akzente gab es aber vor allem durch die plötzliche Vielfalt lokaler Angebote, von einer Flexibilisierung der Liturgien über interaktive Experimente bis zu digitalen Formen des Abendmahls, die in der Karwoche 2020 zwar nicht mehrheitlich, jedoch zum ersten Mal in Deutschland in einer nennenswerten Anzahl landeskirchlicher Gemeinden in die Praxis umgesetzt wurden. Pfarrer als Liturgen werden sich künftig vom Anliegen herausgefordert sehen, vermehrt hybride Gottesdienstformate anzubieten. Gleichzeitig wächst bei ihnen das Bewusstsein, dass digitale Gottesdienstangebote das Feld der Verkündigung deutlich marktförmiger gestalten und zum Vergleichen der individuellen liturgisch-theologischen Performanz einladen10. Insgesamt haben nur 21,1 % der Evangelischen den Gottesdienstbesuch in der Kar- und Osterzeit vermisst11. Es bleibt zu klären, inwieweit die digitalen Verkündigungsangebote diesem Bedürfnis zumindest teilweise entgegenkamen und ob sie auch über die Gruppe der kirchlich Verbundenen hinaus eine nennenswerte Rezeption erfuhren12.
Auch in den Bereich der nichtdigitalen Verkündigung investierten Amtsträger viel Kreativität. Symbolische Gemeinschaftsaktionen wie etwa die Initiative zum „Balkonsingen“ konnten in den Wochen des Lockdown eine gewisse Breitenwirksamkeit entfalten. Sie dokumentieren Möglichkeiten und Grenzen der Kampagnenfähigkeit einer Kirche, die darauf zielt, in Zukunft weniger als Organisation und vermehrt als soziale Bewegung wahrgenommen zu werden. Gleichzeitig wurde der institutionelle Charakter der Kirche in der Krise deutlich bestärkt: Die enge Abstimmung mit den staatlichen Behörden und die akribische Umsetzung der Regelungen auf allen Ebenen führten dazu, dass ein Großteil der kirchlichen Amtsträger der Krise professionell, d.h. vor allem im Medium der Planung und Kontrolle begegneten.
Für genuin religiöse Reaktionsmuster über den Bereich der öffentlichen Verkündigung hinaus fehlten häufig Aufmerksamkeit und Anreize. Das steht im Einklang mit Ergebnissen, die zeigen, dass die Bevölkerung angesichts der Krise den religiösen Ressourcen mehrheitlich keine hohe Bedeutung beimisst. Auch nur 30,7 % der befragten Evangelischen sahen in der Osterzeit 2020 den eigenen Glauben oder die eigene Spiritualität als Hilfe in der aktuellen Situation. Der Wert ist zwar leicht höher als derjenige der befragten Katholiken, er unterscheidet sich aber nur unwesentlich vom Bevölkerungsquerschnitt (26,9 %)13. Diese Werte sind unter dem aktuellen Eindruck der Lockerungen weiter zurückgegangen, und zwar in einem deutlich stärkeren Maße als im Bevölkerungsquerschnitt14. Eine aktuelle Analyse aus Österreich – aufgrund der Konfessionsstruktur nur eingeschränkt vergleichbar – zeigt einen geradezu dramatischen Rückgang der allgemeinen Religiosität in der dortigen Bevölkerung: Unter dem aktuellen Eindruck der Pandemie halten dort 68 % Religion und Kirche für nicht wichtig; 41 % geben an, „nie“ zu beten15.
Bisher hat die Krise in Deutschland nicht zu einer dauerhaften Veränderung der allgemeinen emotionalen Rahmenbedingungen geführt, auf die im Medium der Religion deutlicher zu reagieren wäre. Bereits im Verlauf des Lockdowns ist das Angstempfinden in der Bevölkerung wieder deutlich zurückgegangen; die entsprechenden Indikatoren folgen weiter einem Abwärtstrend16. Gut zwei Dritteln der Bevölkerung fehlte während des Lockdowns die familiäre Nähe, besonders während der Osterfeiertage. Unter den befragten Evangelischen war dieser Anteil nochmals um 8% höher17. Nach dem gegenwärtigen Stand handelt es sich dabei aber um episodische Trübungen. Daten aus Österreich zeigen, dass religiöse Menschen die Krisensituation insgesamt aktiver, problemorientierter und gemeinschaftsorientierter bewältigen als nichtreligiöse. Was die verschiedenen Generationen dennoch durch die Pandemie langfristig an Traumatisierungen, sozialen Ängsten und Kontrollverlust erfahren werden, bleibt eine Herausforderung für die künftige seelsorgerliche Wahrnehmung18.
Durch die starke Einschränkung ihres sozialen Bewegungsfelds fühlten hauptamtliche Kirchenvertreter ihr berufliches Selbstverständnis abrupt infrage gestellt. Personen in kirchlichen Leitungsfunktionen sind durchaus in Krisenreaktionen eingeübt, hatten bisher jedoch offenbar sehr wenig Erfahrung damit gesammelt, wie diese Reaktionen unter der Bedingung physischer Abwesenheit und persönlicher Distanz zu leisten sind. Häufig halten Befragte als Lernerfahrung fest, dass die Krise Tendenzen und Effekte verstärkt hat, die bereits zuvor virulent waren. Das betrifft z.B. die lokal sehr unterschiedlich ausgeprägte soziale Stabilität der Kirchengemeinden. Die Kirchengemeinde als Institution stellt gleichzeitig ein Ensemble von Personbeziehungen dar. In Krisenzeiten erwarten Mitglieder und Sympathisanten verstärkt ein Leitungshandeln. Auf der Basis interner Auswertungsgespräche lässt sich folgern, dass bis zu 30 % des verantwortlichen Pfarrpersonals sich von der Krise überfordert fühlten und zu keiner Reaktion in der Lage waren. Die beruflich Mitarbeitenden empfanden es zwar überwiegend als entlastend, dass sich kirchliche Arbeitgeber in der Krise als institutionell stabil erwiesen haben. Nicht nur vereinzelte Fälle von Kurzarbeit auch im kirchlichen Bereich haben aber Zukunftsängste der kirchlichen Angestellten als ein neues Thema auf die Agenda gebracht19.
Die krisenhafte Selbstwahrnehmung der Kirche als Institution wurde bald zum Thema eines engmaschigen publizistischen und medialen Diskurses. Immer noch wird auf vielen Themenfeldern die Rolle verhandelt, die die Kirchen in der Krise einnehmen sollten. Dabei sind die Argumentationsmuster überwiegend identisch, gleich ob eher die evangelische oder die katholische Kirche im Blick ist. Die Selbstthematisierung erhielt zumindest vorübergehend einen Fokus in der Frage nach der „Systemrelevanz“ von Kirche. Sie wurde überwiegend im Sinne einer pragmatischen Selbstbescheidung und der Konzentration auf die unmittelbar angewiesenen Aufgaben beantwortet. Vorsichtig lässt sich folgern, dass die jüngere und auch die mittlere, allmählich in den Leitungsämtern angelangte Generation die Grenzen der institutionellen Wirksamkeit der kirchlichen Institutionen für die Gesamtgesellschaft wahrnehmen20. Nur auf einem Feld wird im kirchlichen Mainstream ein deutliches Unbehagen an den politisch durchgesetzten und von den Kirchenverwaltungen meist rasch exekutierten Einschränkungen laut: Dass auch die kirchliche Seelsorge durch die Kontakt- und Zugangsbeschränkungen auf vielen Feldern zum Erliegen kam, wurde oft als ungerechtfertigt empfunden. Das spricht für die inzwischen hochgradig professionalisierte Eigenwahrnehmung dieses kirchlichen Handlungsfelds, aus dem heraus sehr schnell Strategien zum Umgang mit der Lockdown-Situation entwickelt wurden21.
In der Sicht der engagierten Mitglieder wird die Frage nach der Systemrelevanz von Kirche indessen überwiegend positiv beantwortet: Zwei Drittel der Personen, die eine hohe Verbundenheit mit der Kirche aufweisen, nahmen den kirchlichen Beitrag zur gesellschaftlichen Krisenbewältigung positiv wahr22. Die Logik funktioniert womöglich deutlicher in umgekehrter Richtung: Längst haben Planungen begonnen, die unter dem kirchlich bewährten Motto „Krise als Chance“ die aktuellen Erfahrungen für Strukturreformen, organisatorische Flexibilisierung, neue thematische Prioritäten und den Rückgewinn spontaner Handlungsmöglichkeiten in einer bürokratisierten Kirche nutzen möchten23.
Noch fehlen Analysen zu diakonischen Initiativen der Kirchengemeinden. Obgleich diese diakonisches Handeln häufig zu ihren zentralen Funktionen zählen, ist hier wohl nicht mit einem ähnlichen Anstieg von Kreativität und Aufmerksamkeit zu rechnen wie im Verkündigungsbereich – die professionellen diakonischen Träger arbeiteten im Hintergrund geräuschlos und professionell weiter, so dass hier ein zusätzlicher Bedarf in engen Grenzen blieb24.
3. Die extremen Ränder: Apokalyptik und Verschwörungsmythen
Verschwörungsmythologische Deutungen der Corona-Pandemie finden sich nur an extremen Rändern der evangelischen Landeskirchen und in Teilen des freikirchlichen Milieus. Im gesamten evangelikalen Spektrum verbreitet ist hingegen ein im Gegensatz zum evangelischen Mainstream unbefangener apokalyptischer Deutungsansatz. Dabei ist zu unterscheiden zwischen einer extremen Deutung, die die Pandemie in den Ablauf der Endzeitereignisse einzuordnen versucht, und einer Interpretation, die in der Corona-Pandemie eine göttlich verursachte oder zugelassene Katastrophe sieht, mit deren Hilfe Gott bei der Menschheit Erschütterung und Bußgesinnung bezwecken möchte.
Die extreme Deutung findet Anknüpfungspunkte in der biblisch-apokalyptischen Überlieferung, etwa bei der Semantik der Krone („corona“) im Zusammenhang mit der Prophezeiung von endzeitlichen Seuchen (Apk 6,2 u. 8). Der aus Hygienegründen empfohlene Mundschutz wird in dieser Sicht als Erkennungsmal der unter widergöttlicher Herrschaft Stehenden gedeutet (Apk 13,16f)25. Die extrem apokalyptisch grundierte theologische Deutung der Pandemie kann in der Verkündigung mit den gängigen Verschwörungsmythen verknüpft werden („das Virus als von antichristlichen Eliten gezüchtete Massenvernichtungswaffe“ 26). Gerade in der Form individueller medialer Rezeption (Youtube-Videos) wirkt diese Verkündigung bis in landeskirchliche konservative Kreise27.
Ganz überwiegend wird jedoch im organisierten evangelikalen Spektrum die extreme Form der apokalyptischen Deutung deutlich zurückgewiesen – auch mehrere etablierte Freikirchen (z.B. die Neuapostolische Kirche und die Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland) haben sich davon offiziell distanziert, nicht jedoch die Zeugen Jehovas. Die evangelische Kirche wertet dies als ein Zeichen der „Entsektung“ jener Gruppen. Akteure am evangelikalen Rand der Landeskirchen achten bei ihrer Thematisierung der Corona-Krise – anders als dies teilweise beim Thema Flüchtlinge oder Gender der Fall war – in der Regel auch sehr genau darauf, sich von Verschwörungsmythen freizuhalten. Allerdings entsteht der Eindruck, dass hier mitunter Formelkompromisse gefunden werden, um unter den Mitgliedern schwelende Diskurse zu entschärfen28. Es wäre lohnenswert zu untersuchen, ob das gezähmte Auftreten in dieser Frage auch auf die Erfahrung zurückzuführen ist, dass sich insbesondere evangelikal-charismatische Gebetstreffen und Gottesdienste als „Super-Spreading“-Ereignisse erwiesen haben.
Beide Spielarten der apokalyptischen Deutung zeigen mitunter eine deutliche Nähe zum rechtspopulistischen politischen Spektrum. Die Allianzen beim Flüchtlings- und beim Genderthema haben diese Konstellation vorbereitet. Die Ablehnung demokratisch verfasster Staatlichkeit und Verwaltung verbindet sich mit Kritik am „vorauseilenden Gehorsam“ der Kirchenleitungen in der Frage der behördlich angeordneten Gottesdienstaussetzung. Andere christlich geprägte Milieus und eine jüngere Generation spricht die eskapistische Apokalyptik im Umfeld der „Hygiene-Demos“ an, die mit dem Ansatz einer „Querfront“ teilweise herkömmliche politische Trennlinien übergreifen.