„Der Westfälische Frieden hatte auch Schattenseiten“
52. Deutscher Historikertag nimmt Neubewertung des Friedensschlusses vor 370 Jahren vor – „Erst der Westfälische Frieden ermöglichte Politik der Kolonialisierung“ – „Globalgeschichtliche Dimensionen lange übersehen“ – Zwei Jahre nach Steinmeier-Rede zieht Historikertag auch Zwischenbilanz zur Debatte „Westfälischer Frieden als Vorbild für Nahost?“
Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 19. September 2018
Der Westfälische Frieden vor 370 Jahren hat Historikern zufolge auch Schattenseiten gehabt. „Während die erfolgreichen Verhandlungen von Osnabrück und Münster den Menschen in Europa den lang ersehnten Frieden brachten, richteten die nun befriedeten Staaten den Blick nach außen, expandierten und gründeten Kolonien. Diese globalgeschichtliche Dimension hat die Geschichtswissenschaft lange übersehen“, sagt die niederländische Historikerin Prof. Dr. Beatrice de Graaf von der Universität Utrecht im Vorfeld des 52. Historikertags in Münster, der neue historische Bewertungen des Westfälischen Friedens 1648 erörtern wird. „Mit dem Friedensschluss entstand nach und nach eine kollektive europäische Sicherheitspolitik, die Angriffe von Nachbarn auf dem Kontinent unwahrscheinlicher machte und die außereuropäische Expansion erst ermöglichte.“ Beatrice de Graaf und die Tübinger Historikerin Prof. Dr. Renate Dürr leiten auf dem Historikertag die Sektion „Peace in Westphalia 1648/2018“, die „eine Kluft zwischen europa- und globalgeschichtlichen Positionen“ zum Westfälischen Frieden schließen will. Erörtert wird auch, ob der Westfälische Frieden als Vorbild für heutige Friedensprozesse im Nahen Osten dienen kann. Beim Historikertag 2016 in Hamburg hatte der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier eine Debatte dazu angestoßen.
„Der Friedensschluss von 1648 war der Beginn einer weitreichenden Zusammenarbeit der europäischen Großmächte in Technik, Handel und Verwaltung, die Grundlage der Kolonialisierung wurde“, so de Graaf. Das neue ausgeklügelte kollektive Sicherheitssystem schuf Raum für gemeinsames Wirtschaften und die Erfindung von Technologien. „Quellen aus der Seefahrt und dem Militär der damaligen Zeit zeigen eindrücklich, wie Kartographen, Ingenieure, Wasserbauexperten, Juristen und Polizisten neues Wissen schufen. Konferenzprotokolle belegen, dass man nun auf Zusammenarbeit statt Konflikt abzielte.“ Bis ins 19. und 20. Jahrhundert hinein sei das gemeinsame Knowhow in Expeditionen am Nil oder Kongo eingesetzt worden, ob im Kampf gegen Seuchen und Piraterie, in der Schiffsnavigation oder beim Bau von Wasserkraftwerken. „Erst mit dem Westfälischen Frieden im 17. Jahrhundert konnten also Wirtschaftsimperien entstehen, deren Finanzmittel und Technologien die großen Expansionszüge der Niederlande im 17. Jahrhundert, Englands im 18. und 19. Jahrhundert und des Deutschen Reiches im späten 19. Jahrhundert ermöglichten. Die Kolonialisierung der Spanier in Südamerika im 15. Jahrhundert etwa verlief noch ganz anders, ohne dieses Knowhow, und im spanischen Alleingang.“
Hierarchisierung und „Vorbild für Nahost“
Das System der kollektiven Sicherheit, das der Westfälische Frieden schuf, baute der Historikerin zufolge auf Hierarchisierung der Staaten: „1648 begann eine Zeit, in der die europäischen Staaten zwar weiter konkurrierten, mittels zahlreicher Verträge aber untereinander hierarchisiert und so letztlich befriedet wurden.“ Die Idee ging auf das mittelalterliche Konzept der „Societas Christiana“ zurück. „Der Frieden von 1648, aber auch das Ende der spanischen Erbfolgekriege 1713 und der Wiener Kongress 1815 hauchten dieser Idee neues Leben ein. Die Verträge stuften die Länder in erst-, zweit- und drittrangige Mächte ein, die sich an ihre Abmachungen zu halten hatten“, so de Graaf. Das typisch europäische Denken in Kategorien der Inklusion und Exklusion sowie der Hierarchisierung sei in der neuen Phase ab 1648 zaghaft, ab 1815 dann erst richtig auf die außereuropäische Welt projiziert worden. „Im 19. Jahrhundert war die Welt schließlich gespalten in eine europäische Koalition, mit Preußen, England, Österreich, Frankreich und Russland an der Spitze, und außereuropäische Territorien in Asien und Afrika – Basis für Expansionen.“
Zwischenbilanz zwei Jahre nach Steinmeier-Rede
Ob der Friedensschluss von 1648 als Vorbild zur Konfliktlösung in Nahost dienen kann, ist unter Historikern laut de Graaf eine kontrovers diskutierte Frage – auch zwei Jahre nach dem Historikertag in Hamburg, auf dem der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier dies in einer vielbeachteten Rede anregt hatte. Die Historikerin hält 1648 oder 1815 nicht unmittelbar für eine geeignete Blaupause. So seien damalige essentielle Voraussetzungen heute nicht gegeben, etwa die kollektive Überzeugung, Not und Elend gemeinsam beenden zu wollen, dies nur kollektiv unter Rückstellung nationaler Interessen erreichen zu können, und auf der Grundlage einer gemeinsamen Idee einer „Societas Christiana“.
Der Marburger Historiker Prof. Dr. Christoph Kampmann hingegen, der beim Historikertag ebenfalls in der Sektion „Peace in Westphalia 1648/2018“ spricht und die Debatte mitangestoßen hatte, sieht „bemerkenswerte Parallelen“ zwischen dem Dreißigjährigen Krieg und modernen Konflikten, gerade in Hinblick auf die spezifischen Konfliktdynamiken: „Damals wie heute handelt es sich um asymmetrische Konflikte, die nicht in die Muster klassischer Staatenkonflikte des 19. Jahrhunderts passen, etwa in Hinblick auf Interventionen von Großmächten oder der konfliktschürenden Rolle von Religion.“ In asymmetrischen Konflikten kämpfen Akteure jenseits einer staatlichen Ebene um die Struktur des Staates, der bereits fragil ist. Dazu gehöre, so Kampmann, „dass Großmächte von außen intervenieren, ohne immer direkt in den Kampf einzugreifen.“ Im Dreißigjährigen Krieg hätten sich die spanische, schwedische und französische Monarchie sukzessive und auf Wunsch von Konfliktbeteiligten im Reich in die Konflikte im römisch-deutschen Reich eingemischt; in Syrien seien es mit Iran, Saudi-Arabien, Russland und den USA gleich vier Mächte, die Interessen hätten.
„Gerade, wenn keine vorschnellen, unzulässigen und unhistorischen Gleichsetzungen zwischen Kriegen des 17. Jahrhunderts und heutigen Konflikten vorgenommen werden, lässt sich durchaus für heute lernen, etwa um die Lage in Syrien besser zu reflektieren“, sagt der Historiker. So lasse sich feststellen, „dass die Konfliktbeteiligten in Syrien noch weit von einer Abklärung und Abstimmung ihrer jeweiligen Sicherheitsinteressen entfernt sind, die 1648 Voraussetzung einer Friedenslösung war.“ Auch sei man sich im Unterscheid zu 1648 für Syrien nicht einig über die Frage, wie die prinzipielle staatliche Verfasstheit einer Nachkriegsordnung aussehen solle. „Anders als in Mitteleuropa 1648 gibt es in Syrien fundamentale Differenzen über die künftige staatliche Ordnung.“ Zudem seien erfolgreiche Friedensverhandlungen wohl nur möglich, wenn alle Beteiligten eingebunden seien, „auch die vielen kleinen Akteure, etwa die Kurden, die geschwächte syrische Regierung und gut 20 Rebellengruppen unterschiedlicher Couleur. Wenn sich nur eine der Parteien ausgeschlossen fühlt, geht der Krieg weiter.“
„Heikle religiöse Streitpunkte außen vor lassen“
Auch die Religion müsse damals wie heute als Faktor ernst genommen werden, ihr kam und komme eine zentrale Rolle zur Konfliktlösung zu. „Bis in die 1970er-Jahre dachte man, dass neue Kriege nur noch wegen Ideologien oder um Ressourcen geführt werden. Heute bekämpfen sich in Syrien mit Schiiten und Sunniten wieder zwei Konfessionen“, erläutert der Wissenschaftler. Der Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten habe sich bei den Friedensverhandlungen dadurch lösen lassen, dass die Verhandlungsparteien theologische Streitpunkte ausklammerten. „Im Friedensvertrag findet sich eine sehr pragmatische, weltliche Lösung für das Zusammenleben der Konfessionen, bei der ihre Verteilung in den Territorien und Städten für ein zuvor vereinbartes Stichdatum (‚Normaljahr‘) für alle Zukunft festgeschrieben wurde.“ Das wirke heute womöglich kurios, sei aber erfolgreich gewesen, „weil keine Seite fürchten musste, dass die andere später an Einfluss gewinnt“, so Kampmann. Die Haltbarkeit des Friedens wurde auch gesichert, indem im Krieg begangenes Unrecht nicht mehr eingeklagt werden durfte, auch schwere Verheerungen unmittelbar vor dem Friedensschluss wie jene Bayerns durch schwedische Truppen. „Alles wurde dem Frieden untergeordnet, auch Wahrheit und Gerechtigkeit.“
„Der Friedenskongress 1648 sollte auch insofern als Vorbild herangezogen werden, als der Wunsch nach Jahrzehnten der Not bei allen Beteiligten eine hohe Bereitschaft zu innovativen Verhandlungsideen auslöste“, so der Historiker. Es wirkte stabilisierend, dass die Schrecken des Krieges tief im kollektiven Gedächtnis verankert waren. „So entstand der Wille, Gespräche auch ohne vorherigen Waffenstillstand zu führen und sämtliche Einzelkonflikte lösen zu wollen.“ Im Verhandlungsformat ging man neue Wege, etwa durch die auch heute noch übliche räumliche Trennung der gegnerischen Delegationen, damals in Münster und Osnabrück. „Der intensive Meinungsaustausch über Jahre wiederum ermöglichte realistischere Einschätzungen der Gegenseite, was Kompromisse erleichterte: 1648 in der Frage der Konfession, heute bei den Sicherheitsinteressen von Iran und Saudi-Arabien.“ Aus heutiger Sicht kurios, damals aber erfolgreich sei der Einsatz parteiischer Mediatoren gewesen. „Sie zeigten sich engagierter als nicht-beteiligte Vermittler, weil sie selbst unter dem Konflikt litten“, sagt der Historiker. (maz/vvm)