„Spaltungen der Gesellschaft sind historisch nichts Neues“
52. Deutscher Historikertag widmet sich im September in Münster „Gespaltenen Gesellschaften“ – „Demokratien nehmen Spaltungen als gefährlich wahr – Historisch wirkten sie aber oft produktiv“ – Größter geisteswissenschaftlicher Kongress Europas – Mit Vorträgen von Wolfgang Schäuble, Christopher Clark, Herfried Münkler, Ulrich Raulff, Aladin El-Mafaalani, Birgit Schäbler – Gastland Niederlande vertreten durch Parlamentsvorsitzende Khadija Arib und Autor Geert Mak
Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 17. August 2018
Gesellschaften haben Historikern zufolge in der Geschichte immer wieder tiefe Spaltungen erlebt, nicht erst seit der aktuellen Flüchtlingskrise. „Nicht selten entwickelten sie sich aber dadurch produktiv weiter“, so die Mittelalter-Historikerin Prof. Dr. Eva Schlotheuber und der Althistoriker Prof. Dr. Peter Funke. „Soziale, ökonomische, religiöse oder ethnische Spaltungen sind keine Besonderheit unserer Zeit, sondern waren in allen Epochen und Weltregionen herausfordernd.“ Die Historiker kündigen den 52. Deutschen Historikertag an, den der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD) unter dem Motto „Gespaltene Gesellschaften“ vom 25. bis zum 28. September an der Universität Münster abhält. Zum Auftakt des Historikertags sprechen der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang Schäuble (CDU), und seine niederländische Amtskollegin Khadija Arib, Vorsitzende der Zweiten Parlamentskammer, über gespaltene Gesellschaften. Schäuble sieht den sozialen Zusammenhalt „vielerorts“ in Gefahr, wie er im Grußwort schreibt. Das Verbindende könne aber dann hervortreten, wenn eine Gesellschaft sich „mit dem Trennenden“ beschäftige.
„In Demokratien, ob antiken oder heutigen, werden Spaltungen stets als gefährlich wahrgenommen“, so die VHD-Vorsitzende Prof. Schlotheuber. Angesichts zahlloser politischer und sozialer Zerreißproben sei das Thema des größten geisteswissenschaftlichen Kongresses in Europa von hoher Aktualität. „Soziale Ungleichheit, kulturelle und religiöse Auseinandersetzungen oder auch neue Nationalismus-Formen, die auf die Globalisierung reagieren, spalten heute Gesellschaften. Der Historikertag wird die historische Tiefendimension der Prozesse aufzeigen, um das Verständnis aktueller Zerreißproben zu erhöhen.“ Das geschieht an vielen Fallbeispielen – von Migrationsdebatten seit der Antike über vormoderne Formen der „Hate Speech“ bis zum Aufstieg der „Neuen Rechten“ in Europa.
„Gesellschaften sahen in der Geschichte immer wieder die Grundlagen ihres Zusammenlebens auf dem Prüfstand“, führt Prof. Funke aus, Sprecher des Historikertag-Komitees in Münster. „Unüberwindlich erscheinende Spaltungen waren eher die Regel als die Ausnahme.“ Permanente Bürgerkriege seien in der griechischen Staatenwelt der Antike eine sozio-politische Grundkonstante gewesen und hätten Debatten über die beste politische Ordnung vorangebracht. „Die konfessionellen Spaltungen der Frühneuzeit zogen lange Verwerfungen bis in die Kommunen nach sich, während die Diktaturen und Kriege des 20. Jahrhunderts oft eine Einheit erzwangen, die Differenzen nur blutig überdeckte.“ Die Kolonialisierung habe außerhalb, aber auch innerhalb Europas gesellschaftliche Umwälzungen und Ungleichheiten bewirkt, die auch die Dekolonialisierung nicht habe befrieden können. Auch heute hätten viele Menschen das Gefühl, der hergebrachte Konsens sei gefährdet. In einer globalisierten Welt wirkten sich Spannungen zudem international aus. „Spaltungen zwischen arm und reich und zwischen ‚fremd‘ und ‚einheimisch‘ lassen das Gefühl von Teilhabe und Gerechtigkeit schwinden, sodass Gruppen zu überzeugen vermögen, die einfache Lösungen propagieren.“
Von antiken Migrationsdebatten bis Hartz IV und „Helikoptereltern“
Beim 52. Deutschen Historikertag befassen sich rund 3.500 Wissenschaftler aus dem In- und Ausland in gut 90 Sektionen mit aktuellen Forschungen zu vielfältigen Phänomen gesellschaftlicher Spaltungen. Erörtert werden etwa Flüchtlingsdebatten vom Altertum bis zur Gegenwart, eine in allen Epochen auftretende soziale, wirtschaftliche und rechtliche Ausgrenzung bestimmter Gruppen, die Frage nach dem Westfälischen Frieden als Vorbild für Nahost, ökonomische Spaltungen in der Bundesrepublik etwa zwischen „Hartz-IV-Familien und Helikoptereltern“ oder die politische Instrumentalisierung von Geschichtsbildern in heute gespaltenen Gesellschaften wie Katalonien, Schottland und Kosovo. Historiker aller Epochen und Teildisziplinen wollen auch diskutieren, wie Utopien und Weltbilder in Gesellschaften konkurrierten und die Epochen damit unterschiedlich umgingen und umgehen.
„Dass Demokratien wie die unsrige Konflikte und Spaltungen besonders empfindlich wahrnehmen, ist auf das öffentliche Aushandeln von Entscheidungen zurückzuführen: Zumindest theoretisch zählt jede Stimme“, erläutert die VHD-Vorsitzende Prof. Schlotheuber. Das demokratische Ringen gesellschaftlicher Kräfte angesichts unübersehbarer Spaltungen habe aber immer wieder produktive Entwicklungen angestoßen. Das Aufbegehren der Mittel- und Unterschichten in mittelalterlichen Städten etwa formte die städtische Verfassung zukunftstauglich. „Autokratische und diktatorische Systeme hingegen schließen sich eher ab, um Spaltungen zu überdecken und nach außen Einheit und Stärke zu demonstrieren.“ Besonders konfliktträchtig war und ist es, wenn in Gesellschaften mehrere Spaltungen aufeinandertreffen, wie Prof. Funke ergänzt, „wenn sich etwa ökonomische, ethnische und religiöse Streitigkeiten vermengen.“ Von solcher Komplexität sei etwa die hochmittelalterliche Armutsbewegung um Persönlichkeiten wie Franz von Assisi gewesen, so Prof. Schlotheuber, „die mit der Forderung nach freiwilliger Armut und praktischer Nächstenliebe zur Zerreißprobe für die Gesellschaft wurde. Sie brachte Amtskirche und Oberschicht in Bedrängnis. Die Idee ließ sich aber nicht niederringen und bereichert Gesellschaften bis heute.“
Die Geschichtswissenschaft könne keine einfachen Lösungen für heutige Herausforderungen bereitstellen, unterstreicht die Historikerin. „Sie kann sie aber in die vielschichtigen Prozesse seit Beginn der Menschheitsgeschichte einordnen, in denen ähnliche Herausforderungen zu bewältigen waren. Ohne das historische Wissen müssten wir in den Debatten um Zuwanderung, religiöse Unterschiede oder nationaler Identität immer wieder von vorne anfangen.“ Zudem helfe die Auseinandersetzung mit früheren „uns häufig fremden“ Gesellschaften in der globalisierten Welt dabei, einen angemessenen Umgang „mit ebenfalls fremden Kulturen zu finden, die häufig ganz anderen Prinzipien als den unseren folgen.“ (sca/vvm)