„Können Menschen den Lauf der Geschichte steuern?“

Wissenschaftler am Exzellenzcluster erörtern die jahrhundertealte Frage, inwiefern Menschen die Zukunft gestalten können und die Geschichte nicht nur schicksalhaft erleiden – Geschichtsvorstellungen von der Antike bis heute – Ab Montag Tagung mit Philosophen, Juristen, Historikern – Öffentlicher Abendvortrag „We the people“ von Rechtswissenschaftler Horst Dreier

Pressemitteilung des Exzellenzclusters vom 23. März 2017

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© upm/Grewer

Ob Klimakatastrophe, weltweite Konflikte oder wachsender Populismus: Menschen können den Verlauf der Geschichte nach Einschätzung von Wissenschaftlern nur dann bewusst gestalten, wenn sie bei allen Zukunftssorgen an diese Möglichkeit der Einflussnahme glauben. „Menschen verhalten sich anders, wenn sie es nicht für möglich halten, die Geschichte durch ihr Handeln zu steuern“, erläutern die Philosophen Prof. Dr. Kurt Bayertz und Dr. Matthias Hoesch vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ vor einer Tagung über das frühere und heutige Geschichtsbewusstsein. „Viele fragen sich gegenwärtig, ob globale Systeme wie die Finanzwelt oder internationale Politik nicht durch Handlungslogiken bestimmt sind, die einer menschlichen Gestaltung der Geschichte geradezu entgegenstehen. Andere halten es gar für gefährlich, wenn Einzelne geschichtsträchtige Entscheidungen fällen wollen.“ Die Vorstellung, dass Menschen Geschichte machen können und sie nicht nur schicksalhaft erleiden, sei ohnehin erst etwa 250 Jahre alt, so die Forscher. „Zuvor herrschte in Europas Geistesgeschichte zweieinhalb Jahrtausende die Idee vor, dass Geschichte entweder zyklisch verlaufe oder nach göttlichem Plan.“

Auf der Tagung „Die Gestaltbarkeit der Geschichte“ am Exzellenzcluster befassen sich ab kommenden Montag, vom 27. bis 29. März, Philosophen, Historiker, Rechtswissenschaftler und Germanisten anhand zahlreicher Textzeugnisse von Philosophen, Dichtern und Politikern mit der Frage, ob Menschen den Verlauf der Geschichte gestalten oder ob er ihnen schicksalhaft zustößt. „Das ist bis heute wissenschaftlich umstritten und lässt sich nur mit einer Bandbreite an Fächern erörtern“, führt Hoesch aus. Die Forschung sei etwa uneins darüber, welche Rolle in der historischen Gestaltung den Individuen, besonders den „großen Männern“, im Vergleich zu Institutionen und Kollektiven zukomme. Debattiert werde auch, welche Kollektive – das Volk, das Bürgertum, die Menschheit – einflussreich seien, und ob die Gestaltung „materialistisch“ an realen Bedingungen ansetze oder „idealistisch“ an Ideen und Bildung. Schließlich sei strittig, ob historische Prozesse überhaupt in ihrer Gesamtheit beeinflusst werden könnten. „Während etwa die Systemtheorie davon ausgeht, dass globale Systeme eine Eigenlogik entwickeln und sich nicht voll steuern lassen, meinen andere, Geschichte werde von Zufällen bestimmt. Viele ökonomische Theorien halten die Steuerung zumindest implizit für möglich.“

Von der Forschung lange vernachlässigt

Die Forschung hat das Thema lange vernachlässigt: „Nachdem der Marxismus im 20. Jahrhundert damit scheiterte, Geschichte gezielt zu gestalten, geriet die ganze Gestaltbarkeitsidee unter Ideologieverdacht.“ Auf der Tagung greifen die Forscher nun einen intellektuellen Paradigmenwechsel auf, der sich vor allem zwischen 1750 und 1850 vollzog. „Damals wurde die traditionelle Vorstellung von Geschichte durch eine neue abgelöst, nach der uns Geschichte nicht nur ‚zustößt‘“, so die Forscher. Interessant sind für sie vor allem Textquellen, die die Idee der Gestaltbarkeit nicht offen ansprachen: neben den philosophischen Klassikern sind das Bücher, Briefwechsel und Reden von Literaten, politischen Aktivisten und Naturwissenschaftlern. „Wichtig war in dieser Phase die Entstehung der Ökonomie und der Sozialwissenschaft, die Formulierung von Verfassungen in vielen Staaten und die Rolle der Französischen Revolution. Dass das Volk sich in der Lage sieht, politisch aktiv zu werden, setzt möglicherweise eine Änderung im Geschichtsbild voraus. Die in der Revolution erlebte Wirkmächtigkeit lässt wiederum einen Nachhall in der theoretischen Wahrnehmung der Geschichte vermuten.“ Tatsächlich sei die Formulierung, dass „der Mensch die Geschichte macht“, genau in dieser Zeit entstanden, und seit den 1790ern schlagartig allgegenwärtig.

Öffentlicher Abendvortrag „We the people“

Im Rahmen der Tagung „Die Gestaltbarkeit der Geschichte“ sind Interessierte zum öffentlichen Abendvortrag „We the people“ von Rechtswissenschaftler und Rechtsphilosoph Horst Dreier eingeladen. Der Würzburger Wissenschaftler, der im Wintersemester Hans-Blumenberg-Gastprofessor am Exzellenzcluster war, spricht über Verfassunggebung als Gestaltungsprozess. Der Abendvortrag ist am Montag, 27. März, um 19.00 Uhr im Hörsaalgebäude des Exzellenzclusters, Johannisstraße 4 im Hörsaal JO 1 zu hören.

Die Philosophen Prof. Dr. Kurt Bayertz und Dr. Matthias Hoesch vom Exzellenzcluster veranstalten die Tagung im Rahmen ihres Forschungsprojektes A2-1 „Die materialistische Weltanschauung im europäischen Kontext des 18. Jahrhunderts“. (vvm)

Frühere Vorstellungen von Geschichte

Die Geschichtsbilder der Antike und des Mittelalters sind teils zyklisch, teils linear, und dann durch das theologische Modell der Heilsgeschichte bestimmt. Nach dem zyklischen Modell gibt es keine wirklich neuen Dinge in der Geschichte, stattdessen wechseln sich ständiges Werden und Vergehen ab. Das theologische Modell geht nach Einschätzung vieler Forscher auf das jüdische Denken zurück, spätestens aber entsteht es durch die Umdeutung der Naherwartung Christi: Die Jünger Jesu gingen davon aus, dass er in wenigen Jahren zurückkehre, um die Welt zu erlösen; nachdem das nicht passierte, wurde sein Wiederkommen in die weit entfernte Zukunft gelegt und damit ein Ziel der Geschichte geschaffen, auf das Geschichte hinläuft. Geschichte wird plötzlich linear gedacht, aber nicht als etwas vom Menschen Gemachtes, sondern als etwas mit dem Menschen Gemachtes.

Von diesen beiden Geschichtsbildern löst sich das moderne Denken ab: Im 18. Jahrhundert entsteht die Fortschrittstheorie, der zufolge die Menschheit immer mehr Fähigkeiten erlangt, und auch in moralischer Hinsicht immer vollkommener wird. Diese Auffassung vertraten Denker wie Turgot, Kant, Hegel, Fichte, Schelling, Condorcet, Iselin und Comte, bevor im 19. Jahrhundert der Historismus entsteht, also eine Richtung, die alles nur als Resultat historischer Entwicklungen begreifen möchte.

Besonders intensiv wurde über die Gestaltbarkeit von Geschichte zwischen 1750 und 1850 diskutiert. Die traditionelle Vorstellung von Geschichte wurde um diese Zeit durch eine neue abgelöst: Es sind demnach die Menschen selbst, die historische Entwicklungen in Gang setzen, vorantreiben und gestalten. Sie handeln nicht mehr innerhalb einer kosmischen Ordnung oder nach göttlicher Vorsehung, sondern auf der Basis von individuellen oder kollektiven Entscheidungen. An Attraktivität verlor die Gestaltbarkeitsidee ab etwa 1850, bevor sie durch die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts teils geradezu in Verruf geraten sei. Heute werden Fortschrittsmodelle und Historismus durchweg kritisiert. Vor dem heutigen Hintergrund erscheint den Forschern daher – in Anlehnung an die Debatte von 1750 bis 1850 – die Frage interessanter, was es genau heißt, Geschichte gestalten zu können, oder inwiefern das möglich ist. (exc/vvm)