„Losing Heaven“
Erste Gesamtschau über Religion in Deutschland seit 1945 von Zeithistoriker Großbölting auf Englisch erschienen
Die erste Gesamtschau über Glaube in Deutschland seit 1945 von Zeithistoriker Prof. Dr. Thomas Großbölting vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster ist unter dem Titel „Losing Heaven“ in englischer Sprache im Verlag Berghahn erschienen. Der Autor beschreibt in der Monografie, die erstmals 2013 unter dem Titel „Der verlorene Himmel“ in deutscher Sprache erschien, die tiefgreifenden Veränderungen der religiösen Landschaft in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg.
„Als Geburtsort der Reformation war Deutschland der Schauplatz einiger der bedeutsamsten Momente in der Geschichte des europäischen Christentums“, erläutert der Historiker. „Heute aber ist seine religiöse Landschaft so, dass frühere Generationen sie kaum wiedererkennen würden.“ Die geschichtliche Untersuchung des religiösen Lebens in Deutschland beschreibt den Weg zu einer heute tiefgreifend veränderten Gesellschaft: „Christliche Gemeinden schrumpfen, private Frömmigkeit nimmt ab und das öffentliche Leben hat fast gänzlich seinen christlichen Charakter verloren, jedoch bleibt ein blühender Markt synkretistischer und individualistischer Formen von ‚Volksreligion‘.“ Das Buch „Losing Heaven“ zeichnet die dramatischen Veränderungen nach und erläutert ihre Konsequenzen für Religionsgemeinschaften in Deutschland heute und für das Gemeinwesen insgesamt.
Heute gehören der Studie zufolge noch rund zwei Drittel der deutschen Bevölkerung einer christlichen Kirche an, um 1950 waren es 95 Prozent. Die Teilnahme am kirchlichen Leben geht kontinuierlich zurück. „Das Christentum ist zu einem Anbieter unter vielen für Sinnstiftung und Sonntagsgestaltung geworden.“
„Kirchen werden bevorzugt, Islam benachteiligt“
„Ein christliches Deutschland gibt es nicht mehr“, unterstreicht der Zeithistoriker, „vielmehr wächst die Zahl der religionspolitischen Konflikte.“ Doch Politik und Kirchen in Deutschland würden religionspolitisch in den 1950er Jahren verharren. „Die christlichen Kirchen werden nach dem Modell aus der Nachkriegszeit noch immer staatlich bevorzugt, obwohl eine Vielzahl an Religionen hinzugekommen ist“, so Großbölting. Eine weitsichtige Politik, die alle Religionsgemeinschaften gleich behandle, sei nicht in Sicht. „Stattdessen herrscht ein System der hinkenden Trennung von Kirche und Staat, das in der Nachkriegszeit entstanden ist“, so der Historiker. „Vieles davon hat sich bis heute erhalten: die Kirchensteuer, der Religionsunterricht an staatlichen Schulen oder der Sitz von Kirchenvertretern in Rundfunkgremien.“ Die Rechte und Ansprüche Andersgläubiger sowie der wachsenden Gruppe an Religionslosen hingegen fielen unter den Tisch. Vor allem der Islam stoße an eine „gläserne Decke“.
Die enge Kooperation zwischen Staat und Kirchen liegt dem Wissenschaftler zufolge im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 begründet, das wesentliche Bestimmungen der deutschen Weimarer Verfassung von 1919 aufgenommen habe, so Prof. Großbölting. „Zu einer Zeit, in der die Gesellschaft dominant christlich geprägt war und man einen ideellen Neuanfang nach dem Nationalsozialismus suchte, funktionierte dieses Zusammenspiel für Politik und Kirchen hervorragend.“ In den 1950er Jahren hätten die Kirchen Idealbilder und Lebenspraxis für viele Felder wie Familie, Sexualität, Bildung, aber auch politische Entwürfe vorgegeben. „Was damals noch als moralische Wegmarke galt, war zwei Jahrzehnte später nur noch eine Position von vielen.“
Christentum heute ein Anbieter unter vielen
In seiner detailreichen Studie zeichnet der Historiker den religiösen Wandel in der alten Bundesrepublik, der DDR und dem wiedervereinigten Deutschland nach. Er schlägt einen Bogen vom Ideal der Rechristianisierung nach 1945, über Konflikte um Sex, Familie und Autorität und die Kirchenkrise in den 1960er Jahren, die Pluralisierung ab den 1970er Jahren, den Sonderfall Ostdeutschland bis zum wachsenden Islam und dem Judentum in Deutschland. Der Wissenschaftler analysiert dabei insbesondere drei Faktoren: die praktizierte Religiosität, das Verhältnis von Religion und Gesellschaft und den innerkirchlichen Wandel etwa mit Blick auf Theologie und Kirchentage.
Das Buch von 2013 stellt Ergebnisse des Projekts C22 am Exzellenzcluster „Transzendente Sinnstiftung und religiöse Vergemeinschaftung im nachmodernen Europa“ dar. Der Autor ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Uni Münster. Derzeit leitet er am Exzellenzcluster das Projekt C2-8 „Neue Soziale Bewegungen und religiöse Sozialformen in der Nachmoderne: ein deutsch-nordamerikanischer Vergleich“. (ill/vvm)