„Staat-Kirchen-Verhältnis entstand als Kompromiss“
Zeithistoriker Thomas Großbölting über die Geschichte der Religions- und Kirchenartikel des Grundgesetzes – Kommentar von Sozialethiker Arnulf von Scheliha
Über die Entstehung und Entwicklung der religionspolitischen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) hat der Zeithistoriker Prof. Dr. Thomas Großbölting in der öffentlichen Ringvorlesung „Religionspolitik heute“ gesprochen. In seinen Ausführungen zeichnete der Wissenschaftler nach, wie 1949 die Religions- und Kirchenartikel des Grundgesetzes zustande kamen, die das Verhältnis des Staates und der beiden christlichen Kirchen bis heute prägen. Die Übernahme der Kirchenpassagen der Weimarer Reichsverfassung (WRV) von 1919 in das Grundgesetz beruhte nicht auf einer breit getragenen Entscheidung, sondern diente vor allem der Konfliktvermeidung, wie Prof. Großbölting sagte. Mit Blick auf diese „schleppende Entstehungsgeschichte“ der religionspolitischen Ordnung gebe es wenig Grund, das heutige Staat-Kirchen-Verhältnis „in besonderer Weise als schützenswert oder sakrosankt“ zu sehen. „Wenn der politische Wille zur Veränderung da ist, dann nur zu.“
„Religionspolitische Ordnungen werden nicht am Reißbrett der politischen Planung entworfen, sondern sie sind das Ergebnis zufälliger Macht- und Politikkonstellationen“, so der Wissenschaftler. Dies treffe besonders auf die Kirchenartikel des Grundgesetzes zu: Religionspolitisch hätten die Mitglieder des Parlamentarischen Rates, die das Grundgesetz erarbeiteten, auf Kontinuität und Konfliktvermeidung gesetzt, „indem sie die Frage nach der Zuordnung von Staat und Kirche schleppend behandelten und sich als Kompromiss auf alte Formeln der Weimarer Republik zurückzogen“, erläuterte Prof. Großbölting. „Die Väter und Mütter des Grundgesetzes waren sich im Klaren darüber, welche Sprengkraft die Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche in der jungen BRD haben konnte.“
„Religionspolitik der Bundesrepublik ist dysfunktional“
Als Ergebnis dieser Entscheidungen von 1949 sei die Religionspolitik der Bundesrepublik heute „in hohem Maße dysfunktional“, so der Zeithistoriker. Die besondere Stellung der Kirchen benachteilige Gemeinschaften anderer religiöser Bekenntnisse und blockiere deren Integration. Das politische System und die Gesellschaft in Deutschland seien weder darauf vorbereitet, dass immer weniger Menschen religiös seien, noch, dass die Ausdrucksformen und Aushandlungsprozesse in dem schrumpfenden religiösen Segment vielfältiger und extremer würden. Prof. Großbölting: „Von Staatsseite aus gibt es keinen aktiven und erst recht keinen pro-aktiven Umgang mit der Herausforderung der religiösen Vielfalt. In Politik, Verwaltung und öffentlichem Leben hat man sich mit dem religionspolitischen Status Quo gut eingerichtet und flickschustert dann daran herum, wenn es sich nicht vermeiden lässt.“
Die Ausführungen mit dem Titel „Restauration oder Aufbruch in der Rechristianisierung? Entstehung und Entwicklung der religionspolitischen Ordnung der Bundesrepublik“ kommentierte der evangelische Theologe und Sozialethiker Prof. Dr. Arnulf von Scheliha. Mit Blick auf eine vermeintliche Privilegierung der beiden Großkirchen hob er hervor, dass bereits frühzeitig eine nicht-christliche Religion den Status der Körperschaft öffentlichen Rechts erhalten habe, nämlich der Zentralrat der Juden. Das habe in der jungen BRD wesentlich dazu beigetragen, den Neuanfang des jüdischen Lebens zu unterstützen, so der Theologe. Er erinnerte auch daran, dass inzwischen verschiedene kleine Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften diesen Status erlangt hätten, etwa die Zeugen Jehovas, die Neuapostolische Kirche, die Ahnadiyya Muslim Jammaat und der Humanistische Verband in verschiedenen Bundesländern. Religionspolitik sei „mehr als die Frage, wer und warum den Körperschaftsstatus hat“.
Dass der Kompromiss von 1949 modernisierungsfähig sei, zeige die religionspolitische Praxis in Deutschland, etwa zuletzt die Staatsverträge zwischen den Stadtstaaten Bremen und Hamburg mit den islamischen Verbänden, unterstrich Prof. von Scheliha. In der gegenwärtigen Parteienlandschaft sehe er gegenwärtig keine Initiative zu einer grundlegenden Überarbeitung der verfassungsrechtlichen Grundlagen der Religionskultur. „Die Mehrheit des Deutschen Bundestages scheint keinen Diskursbedarf zu sehen.“