Grabkunst als Zugang zu Jenseitsvorstellungen?
Dänische Archäologin über Grabporträts aus der antiken Stadt Palmyra
Über Grabporträts der antiken Oasenstadt Palmyra und damalige Jenseitsvorstellungen hat die Archäologin Prof. Dr. Rubina Raja von der dänischen Universität Aarhus in der Ringvorlesung „Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“ des Exzellenzclusters gesprochen. „Es ist wichtig zu hinterfragen, in welchem Umfang diese Grabmonumente eine Vorstellung von oder eine Erwartung an ein Leben nach dem Tod ausdrückten“, erläuterte die Wissenschaftlerin in ihrem Vortrag mit dem Titel „Zukunftsvisionen im Grab. Grabporträts und Gesellschaft in Palmyra“. Viele der Porträts ließen sich mehrdeutig interpretieren. Die Forschung könne in vielen Fällen nicht abschließend beurteilen, ob die Abbildungen religiöse Vorstellungen oder gesellschaftliche Aussagen transportierten.
Prof. Raja leitet ein von der dänischen Carlsberg Stiftung finanziertes mehrjähriges Forschungsprojekt, das ein vollständiges Corpus der palmyrenischen Porträts erstellt und für übergreifende Forschungsfragen erschließt. Die Grabporträts von Palmyra, das im heutigen Syrien liegt, stellen nach ihren Worten den größten Bestand von Porträts der römischen Welt außerhalb Roms dar. Damit seien sie eine „signifikante Materialgruppe“, um die Selbstdarstellung der Stadtbewohner und ihre kulturelle Bedeutung zu untersuchen. Die Porträts ließen zwar Rückschlüsse auf die Gesellschaft in Palmyra zu, doch die Rekonstruktion der ursprünglichen Kontexte müsse sich auf wenige gut dokumentierte Beispiele stützen.
Zum Beispiel diskutiert die Forschung nach den Worten der Archäologin, ob das Tuch, das auf vielen Grabporträts hinter den Köpfen des Verstorbenen zu sehen ist, eine symbolische Bedeutung hat. „Einige Wissenschaftler möchten es als Zugang zum Leben nach dem Tod sehen, sozusagen das nomadische Gegenstück zu den Türen in der griechischen, römischen und etruskischen Grabkunst.“ Die Schlüssel, die auf den Porträts meist von Frauen gehalten werden, würden von manchen Altertumsforschern ebenfalls als Ausdruck dieses Gedankens verstanden, andere sähen sie als Schlüssel zu den irdischen Besitztümern des Verstorbenen. Sowohl die Schlüssel als auch Schriftrollen, die in den Abbildungen oft von Männern gehalten werden, seien manchmal mit Begriffen wie „Haus der Ewigkeit“ oder „Sieg des Zeus“ versehen.
„Auch die Bankettszenen sind mehrdeutig“, sagte die Archäologin. „Sind es die Bilder vergangener Bankette, die der Verstorbene während seines Lebens genoss? Sind es Grabbankette in Gedenken an den Verstorbenen? Oder Feste im glücklichen Leben nach dem Tod?“ Darauf habe die Forschung im Laufe der Zeit viele verschiedene Antworten gegeben, darunter auch die nüchterne Analyse, dass die Bankettszenen entgegen transzendentaler Interpretationen möglicherweise ohne jegliche religiöse Konnotationen seien. „Die Verstorbenen werden demnach so dargestellt, wie sie sich selbst im Leben gerne gesehen hätten, als jemand, der weltliche Freuden genoss.“ Die typischen großen, „hypnotischen“ Augen in den Porträts sind laut Prof. Raja in früheren Forschungsarbeiten so gedeutet worden, dass sie „über das Hier und Jetzt“ hinaus sehen. „Diesen Mystizismus gab es in der römischen Kunst sonst nicht, und auch heute würden wir kaum die Spiritualität und Transzendenz unserer Forschungsobjekte unterstreichen.“
Die Forscherin hob die große Bedeutung von Palmyra in römischer Zeit und „den ästhetischen Reiz und die Bekanntheit“ ihrer Kunst hervor. Dennoch habe diese Kunst bis heute wenig tiefgehende Forschung erfahren. „Der besondere Charakter Palmyras – zwischen den zwei mächtigen Reichen Rom und Parthien auf halbem Weg zwischen Eufrat und dem Mittelmeer gelegen – ist seit langem bekannt. Sprache, Gesellschaft und Religion der Stadt, ihre Kunst und Architektur zeugen von einem reichen und vielfältigen Erbe, von einer einmaligen Synthese zwischen Ost und West, welche die akademische Forschung nach wie vor fasziniert und inspiriert.“
„Ungefähr 2.000 der palmyrenischen Grabporträts aus den ersten drei Jahrhunderten nach Christus sind über die Museen der Welt, Privatsammlungen und den Kunstmarkt verteilt“, erläuterte Prof. Raja. Bei den Grabporträts seien die mit Abstand meisten und bekanntesten der in Palmyra produzierten Büstenreliefs auf sogenannte „loculus“-Platten aus Kalkstein der Region gemeißelt worden. Die Übertragung der Halbfiguren auf Platten sei „eine bahnbrechende Adaption in Syrien, möglicherweise ausschließlich im Palmyra des ersten Jahrhunderts nach Christus“ gewesen. „Da die Loculi zu Dutzenden, mitunter sogar zu Hunderten in den Grabmälern angeordnet waren, erblickte der Besucher eine riesige Porträtgalerie.“
„Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“
Die Ringvorlesung, die das Habilitandenkolleg des Forschungsverbunds organisiert, widmet sich der Geschichte apokalyptischen und utopischen Denkens von der Antike bis heute und untersucht, wie religiöse und politische Elemente in Zukunftsvisionen verwoben sind. In der Reihe kommen Vertreter verschiedener Fächer zu Wort: aus der Geschichts-, Rechts- und Politikwissenschaft, Philosophie, Theologie, Archäologie, Ägyptologie und Musikwissenschaft.
Die Vorträge sind dienstags von 18.15 bis 19.45 Uhr im Hörsaal F2 des Fürstenberghauses am Domplatz 20-22 in Münster zu hören. Den nächsten Vortrag am 11. November hält Mittelalterhistoriker Prof. Dr. Jay Rubenstein von der University of Tennessee, USA, zum Thema „Nebuchadnezzar's Dream: Apocalypse, History, and the First Crusade“ („Nebukadnezars Traum: Apokalypse, Geschichte und der Erste Kreuzzug“). (bhe/vvm)
Ringvorlesung „Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie“
Wintersemester 2014/2015
dienstags 18.15 bis 19.45 Uhr
Hörsaal F2 im Fürstenberghaus
Domplatz 20-22
48143 Münster