Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit

Europaweite Studie aus dem Exzellenzcluster erschienen

Buchcover „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa“

Buchcover

Die erste umfassende Untersuchung zum Einfluss von Religionen auf die Wohlfahrtsstaaten Europas aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ ist erschienen. Herausgeber sind die evangelischen Theologen Prof. Dr. Hans-Richard Reuter und Andreas Kurschat und die katholischen Theologen Prof. Dr. Karl Gabriel und Dr. Stefan Leibold. „Die Frage nach den Wertgrundlagen der Sozialpolitik spielt für die Selbstverständigungsprozesse der Europäischen Union eine wichtige Rolle“, schreiben die Forscher in dem Buch „Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa“, das als erster von zwei Bänden im Tübinger Verlag Mohr Siebeck erschienen ist. Die europäischen Wohlfahrtsstaaten seien aus komplexen Kooperations-, Konflikt- und Transformationskonstellationen entstanden, bei denen neben dem Staat und anderen säkularen Akteuren auch religiöse Glaubensgemeinschaften beteiligt waren. „Dennoch ist der Faktor Religion in der Wohlfahrtsstaatsforschung bislang eher am Rande thematisiert worden. Der vorliegende Band beteiligt sich an der Schließung dieser Forschungslücke.“

Die Studie des Exzellenzclusters ist im Projekt A7 „Die religiöse Tiefengrammatik des Sozialen“ entstanden. Darin untersuchen internationale Sozialwissenschaftler, Historiker, Theologen und Juristen Wohlfahrtsstaatlichkeit in Bulgarien, Dänemark, Deutschland, England, Frankreich, Griechenland, Italien, Niederlande, Polen, Russland, Schweden, Spanien und der Türkei. Mit Fallstudien zu diesen dreizehn europäischen Ländern bietet der Band, der den Untertitel „Konstellationen – Kulturen – Konflikte“ trägt, eine vergleichende Analyse religiös-konfessioneller Einflüsse auf die sozialstaatliche Entwicklung vom Beginn der Industrialisierung bis zur Gegenwart.

„Für Deutschland und seinen Weg in die Moderne besitzt der Wohlfahrtsstaat eine exzeptionelle, mit kaum einem anderen Land vergleichbare Bedeutung“, schreiben Prof. Gabriel und Prof. Reuter. Während die staatspolitische Seite der deutschen Geschichte ständigen Wechseln unterworfen gewesen sei, stelle hier der Wohlfahrtstaat einen tragenden Kontinuitätsfaktor dar. Seine spezifische Ausprägung verdankt er den Untersuchungen zufolge neben der Klassenspaltung der  Spannungslinie zwischen den Konfessionen in Deutschland. Die Untersuchungen zu weiteren Ländern befassen sich etwa mit der Entwicklung vom „Wohlfahrtsstaatskonsens“ zum „Wohlfahrtsmarkt“ in Großbritannien, mit der Rolle des Islams im normativen Rahmen des türkischen  Sozialstaats, der Bedeutung orthodoxer Tradition und sozialistischen Erbes in Russland und mit dem Einfluss lutherischen Glaubens jenseits der Staatskirche in Schweden. „Die Länderstudien zeigen, dass in jedem Land viele spezifische Faktoren und religiöse Begründungen eine Rolle spielten“, so Prof. Reuter. „Sie haben den spezifischen Charakter jedes Landes mitgeprägt. Mit der detaillierten Aufarbeitung dieser Zusammenhänge haben wir Neuland erschlossen.“ (han/vvm)


Hinweis: Karl Gabriel, Hans-Richard Reuter, Andreas Kurschat und Stefan Leibold (Hgg.), Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Europa. Konstellationen – Kulturen – Konflikte, Tübingen: Mohr Siebeck, 2013, ISBN: 978-3-16-151717-4, 513 Seiten, 89 Euro.

Aus dem Inhaltsverzeichnis

  • Karl Gabriel, Hans-Richard Reuter, Andreas Kurschat, Stefan Leibold: Einleitung: Wohlfahrtsstaatsforschung, cultural turn und Fragestellung
  • Daniela Kalkandjieva: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Bulgarien. Die Bedeutung der Religion im Wandel der politischen Systeme
  • Niels Kærgård: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Dänemark. Der Wohlfahrtsstaat als Produkt gottesfürchtiger Christen oder mächtiger Politiker?
  • Karl Gabriel, Hans-Richard Reuter: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Deutschland. Korporatistischer Sozialversicherungsstaat mit konfessioneller Prägung
  • Ilona Ostner, Matthias Koenig: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Frankreich. Historisch-soziologische Annäherung an einen Sonderfall
  • Maria Petmesidou, Periklis Polizoidis: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Griechenland. Die Orthodoxie im sozialpolitischen Klientelismus
  • Ivo Colozzi: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Italien. Der prägende Einfluss der katholischen Kultur
  • Herman Noordegraaf, Erik Sengers: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in den Niederlanden. Weltanschauliche Versäulung im Umbruch
  • Stanisław Fel: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Polen. Nationaler Katholizismus ohne sozialpolitisches Profil
  • Kathrin Behrens: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Russland. Orthodoxe Tradition und sozialistisches Erbe
  • Sven Jochem: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Schweden. Der Einfluss lutherischen Glaubens jenseits der Staatskirche
  • Víctor Pérez-Díaz, Elisa Chuliá, Joaquín P. López Novo, Berta Álvarez-Miranda: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in Spanien. Katholizismus, soziale Werte und das Wohlfahrtssystem
  • Ece Göztepe-Çelebi, Aykut Çelebi: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit in der Türkei. Die Rolle des Islam im normativen Rahmen des Sozialstaats
  • Malcolm Brown: Religion und Wohlfahrtsstaatlichkeit im Vereinigten Königreich. Vom Wohlfahrtsstaatskonsens zum Wohlfahrtsmarkt
  • Karl Gabriel, Hans-Richard Reuter, Andreas Kurschat, Stefan Leibold: Auswertung: Konfigurationen, Cluster und religionspolitische Typen der Wohlfahrtsstaatsentwicklung in Europa

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