Neuerscheinung „Umstrittene Säkularisierung“ stellt zentrale These auf den Prüfstand
Aktuelle Forschungsergebnisse über das Verhältnis von Religion und Politik vom Mittelalter bis heute präsentiert die Neuerscheinung „Umstrittene Säkularisierung“. Der Band aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Uni Münster, der bei Berlin University Press erschienen ist, setzt die klassische Säkularisierungstheorie der historischen Überprüfung aus.
„Die Säkularisierungstheorie geht davon aus, dass Modernisierung zu einem Bedeutungsverlust von Religion und Kirche in der Gegenwart führt. Diese These ist seit 15 Jahren zum Gegenstand kontroverser Deutungen geworden“, so die Herausgeber, der Sozialethiker Prof. Dr. Karl Gabriel und die Religionssoziologen Dr. habil. Christel Gärtner und Prof. Dr. Detlef Pollack. Die Kritik entzünde sich am eurozentrischen Charakter und an der deterministischen Tendenz der Säkularisierungstheorie. Sie beziehe sich außerdem auf die Annahme, dass sich moderne Gesellschaften grundlegend von vormodernen unterscheiden und sich durch einen höheren Grad an Differenzierung gesellschaftlicher Funktionen auszeichnen. Vor allem die letztgenannte historisch angelegte These fordere zu einer Überprüfung heraus, die nur Soziologen und Historiker gemeinsam leisten könnten.
In dem Sammelband sind Beiträge von renommierten Historikern, Soziologen, Politologen und Theologen aus Europa und den USA versammelt. Sie diskutieren die Gültigkeit der Säkularisierungsthese anhand von Fallbeispielen aus neun Jahrhunderten – vom Investiturstreit bis zum 20. Jahrhundert. Zu den Autoren des Bandes gehören, neben den Herausgebern, Wissenschaftler wie Gerd Althoff, Olaf Blaschke, Philip S. Gorski, Wilfried Hartmann, Hans Joas, Franz-Xaver Kaufmann, Volkhard Krech, Antonius Liedhegener, Hugh McLeod, Otto Gerhard Oexle, Barbara Stollberg-Rilinger und Hartmann Tyrell.
Wiederkehr der Religionen?
Kritiker der Säkularisierungstheorie sind der Auffassung, dass Religionen in den vergangenen Jahren politisch weltweit an Bedeutung gewonnen haben und in den Medien stärker sichtbar geworden sind. Andere Wissenschaftler weisen die Idee von einer „Wiederkehr der Religionen“ zurück. Zur Analyse des Verhältnisses von Religion und Politik untersuchen die Autoren des Sammelbandes für verschiedene historische Phasen im Detail, wie sich das Verhältnis der beiden sozialen Bereiche verändert hat, welche Akteure die jeweils treibenden Kräfte waren und ob sich die beiden Sphären im Laufe der Zeit tatsächlich stärker voneinander abgelöst haben.
Um soziologische Theorie und historische Analyse aufeinander zu beziehen, werden in dem Buch Probebohrungen zu ausgewählten Perioden vorgenommen. Sie beziehen sich auf den Investiturstreit (1056-1122), in dem Kirche und Kaisertum um die Vormacht rangen, und auf das Verhältnis von Religion und Politik im Konfessionellen Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts. Die Beiträge befassen sich zudem mit der Garantie der Menschenrechte und der Religionsfreiheit, wie sie Ende des 18. Jahrhunderts in den USA und durch die Revolution in Frankreich erreicht wurden und die Voraussetzung für einen säkularen und religionsneutralen Staat darstellen, sowie auf „das lange 19. Jahrhundert“ (1789/1803-1914), in dem das liberale Bürgertum die rechtliche Trennung von Kirche und Staat betrieb.
Wie die Ergebnisse der Fallanalysen zeigen, lassen sich in allen untersuchten Epochen sowohl Ansätze für eine Differenzierung von Religion und Politik, aber auch für gegenläufige Tendenzen entdecken. Der Band schlägt eine erste Schneise durch ein Forschungsfeld, das für das Verständnis von Religion und Politik zentral ist. Er fordert zu weiteren Anstrengungen heraus, die Säkularisierungsthese historisch wie soziologisch besser abzuklären. (vvm)
Hinweis: Karl Gabriel, Christel Gärtner, Detlef Pollack (Hgg.), Umstrittene Säkularisierung, Soziologische und historische Analysen zur Differenzierung von Religion und Politik, Berlin: Berlin University Press, 2012. 625 Seiten, gebunden, 34,90 Euro, ISBN 978-3-86280-032-2.