Bei der Entstehung von verbindlichem Wissen bestehen in Recht und Religion erstaunliche Gemeinsamkeiten. Das geht aus einem neuen Buch über „Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion“ hervor, das Jurist Prof. Dr. Nils Jansen vom Exzellenzcluster „Religion und Politik“ mit herausgegeben hat. „In der Religion wie im Recht kommt bestimmten Texten eine hohe Autorität zu“, erläutert der Experte. Dazu zählen nach seinen Worten nicht nur die Bibel und Gesetze, sondern auch Kommentare und andere wissenschaftliche „books of authority“. Für die Überlieferung des entsprechenden Wissens und die Definition der Begriffe seien in beiden Fällen Fachleute zuständig, die Theologen oder die Juristen.
Dogmatisierungen finden laut Prof. Jansen statt, wenn sich Begriffe, Ordnungsvorstellungen und Deutungsmuster verfestigen und zu verbindlichem Wissen werden. Dieses Wissen präge das Denken und Handeln der Menschen. Beispiele seien christliche Glaubensbekenntnisse, Dogmen der katholischen Kirchen, aber auch juristische Grundsätze. Es gebe freilich auch große Unterschiede zwischen Dogmatisierungen in Recht und Religion, schreibt der Jurist. Die katholische Kirche verabschiede Dogmen durch das Lehramt, die Konzile und den Papst und setze sie mit institutioneller Gewalt durch – aktuell etwa durch den Entzug der Lehrerlaubnis für Theologen mit abweichenden Standpunkten, historisch auch mithilfe des Scheiterhaufens. „Im Recht verlaufen Dogmatisierungen dagegen flexibler, über die Autorisierung von Texten und die Stabilisierung von Lehren, Begriffen und Methoden“, so Prof. Jansen. Zudem sei das verbindliche Wissen im Recht wandelbarer. „In der Religion wird eine offenbarte Wahrheit der menschlichen Willkür entzogen, das Recht hingegen wird nicht nur durch die Gerichte angewendet, sondern auch ständig durch die Politik neu gesetzt.“ Im modernen Recht gebe es deswegen zwar Grundsätze, aber keine Dogmen.
Die Autoren des Bandes untersuchen für verschiedene Epochen die Institutionen und Verfahren der Dogmatisierung, etwa die Konzile der Kirche, die Gerichte oder wissenschaftliche Schulen, die mit Meinungsverschiedenheiten konfrontiert sind. „Es geht zudem um die Frage, wie Texte ihre maßgebliche Autorität erhielten, beispielsweise offizielle Lehrverlautbarungen der Kirchen oder gerichtliche Entscheidungssammlungen.“ Ein besonderes Augenmerk der Autoren liegt auf den Methoden, mit denen die Experten bei Dogmatisierungen argumentieren, und den medialen Formen, in denen verbindliches Wissen öffentlich präsentiert wurde.
Deutsches Recht stark dogmatisiert
Das gegenwärtige deutsche Recht ist laut Prof. Jansen außergewöhnlich stark dogmatisiert. „In anderen westlichen Ländern wie Großbritannien und Frankreich orientieren sich die Rechtsprechung und die Rechtswissenschaft stärker an den Urteilen der Richter als an grundsätzlichen Regeln“, erläutert der Jurist. Ein Fach namens „Rechtsdogmatik“ gebe es bezeichnenderweise nur in Deutschland. Ziel dieses Faches ist es Prof. Jansen zufolge, das geltende Recht in geordneter Form darzustellen. In Deutschland hätten die Dogmatiker ein kompliziertes System fester und eindeutiger Begriffe, Grundsätze und Regeln aufgestellt, das jedem Einzelfall gerecht werden soll. „Das wirkt auf Außenstehende oft sehr spitzfindig, ist aber sinnvoll und kein Selbstzweck.“ Die komplexen Grundsätze des deutschen Rechts garantieren dem Experten zufolge Rechtssicherheit und Problemlösungen, die dem Einzelfall angemessen sind.
Religionen gehen nach den Worten Prof. Jansens sehr unterschiedlich mit Dogmatisierungen um, nicht immer werde eine eindeutig bestimmte Normativität erwartet. „Im Islam galten Meinungsverschiedenheiten lange als eine Gnade. Unterschiedliche Gutachten verschiedener Schulen wurden nicht, wie im Christentum, als Problem gesehen“, schreibt der Jurist. Anders als in der katholischen Kirche gebe es im Islam auch keine zentrale Instanz, die Glaubenssätze in theologisch-grundsätzlicher und verbindlicher Form verkündet und als Ansprechpartner dienen kann. Trotzdem erwarte der deutsche Gesetzgeber eine institutionelle Verfasstheit der verschiedenen islamischen Religionsgemeinschaften, um etwa den islamischen Religionsunterricht zuzulassen.
Prof. Jansen forscht im Cluster-Projekt A1 „Dogmatik als symbolische Inszenierung von Normativem in Recht und Religion“. Den neuen Sammelband hat er gemeinsam mit dem katholischen Theologen Prof. Dr. Georg Essen aus Nimwegen herausgegeben. (arn)
Hinweis: Georg Essen, Nils Jansen (Hg.): Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion. Tübingen: Mohr Siebeck 2011, ISBN-13: 978-3161507908 (291 Seiten).
Inhaltsübersicht:
Nils Jansen: Dogmatisierungsprozesse in Recht und Religion: Einführung
Georg Essen: Spätantike Dogmatisierungsprozesse zwischen kirchlicher Traditionsbildung, hellenistischer Wissenskultur und römischer Verfahrensordnung
Michael Böhnke: Kein anderer Glaube? Das Veränderungsverbot des nizänischen Glaubens in Spätantike und Frühmittelalter
Susanne Lepsius: Auflösung und Neubildung von Doktrinen nach der Glosse: Die Dogmatik des Mittelalters
Hubert Filser: Präzisierung und Systematisierung des christlichen Glaubens auf der Basis von Dogmen und Glaubensartikeln im frühen und hohen Mittelalter
Peter Neuner: Wie lehren die Kirchen verbindlich? Dogmatisierungsprozesse im Spätmittelalter und in der Reformationszeit
Filippo Ranieri: Kasuistik und Regelbildung bei der Rechtsfindung im europäischen Ius commune des 16. – 17. Jahrhunderts
Tilman Repgen: Juristisches Dogma in normativer Vielfalt: Eine Nahaufnahme aus der Zeit der Spätscholastik
Andreas Thier: Dogmatik und Hierarchie: Die Vernunftrechtslehre
Michael Moxter: Lehre zwischen Positivität und Freiheit: Protestantische Theologie im 19. Jahrhundert
Hans-Peter Haferkamp: Dogmatisierungsprozesse im „heutigen Römischen Recht“ des 19. Jahrhunderts
Knut Wenzel: Die Identität der Glaubenswahrheit und die Transformationsprozesse der Moderne: Dogmenhermeneutische Sondierungen