„Die 70er waren kein rotes Jahrzehnt“

Münsteraner Historiker bewerten Rolle der politischen Rechten nach 1968 neu

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Dr. Massimiliano Livi

Die 1970er Jahre waren nach Erkenntnissen von Münsteraner Historikern kein „rotes Jahrzehnt“. „Entgegen der vorherrschenden Meinung haben in dieser Zeit nicht nur die politische Linke, sondern auch Christdemokraten, Konservative und Rechtsextremisten viel Zulauf erhalten“, sagte Historiker Dr. Massimiliano Livi aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) am Donnerstag in Münster. „Sie erfuhren wie die Linke einen Politisierungsschub und organisierten sich neu“, so der Zeitgeschichtsforscher. Er hat mit den Münsteraner Historikern Dr. Daniel Schmidt und Michael Sturm soeben das Buch „Die 1970er-Jahre als schwarzes Jahrzehnt“ herausgegeben, dessen Autoren diese politisch bewegte Phase in Deutschland, Italien und Österreich betrachten.

„Die politische Rechte stand in den 1970er Jahren vor der Aufgabe, Antworten auf neue Wertorientierungen und Lebensstile zu finden“, erläuterte Livi. Die westlichen Industriestaaten hätten sich fundamental geändert, linke Ideen und Bewegungen einen Aufschwung erlebt. „Neue Studien belegen aber auch die Beharrungskraft eines konservativen Lebensstils und die Mobilisierungsfähigkeit konservativer Politik“, so Livi. Traditionelle Werte seien in den 70ern wieder sichtbar und vertretbar geworden. „Auch die politisierte Jugend war nicht frei von antimodernen Bestrebungen.“

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Cover der Publikation „Die 1970er-Jahre als schwarzes Jahrzehnt“

Der lautstarke Wunsch nach Veränderungen verhinderte laut Livi nach 1968 nicht, dass die Zeit zum Ausgangspunkt wichtiger konservativer Entwicklungen wurde. „Die neuen Möglichkeiten der politischen Teilhabe wurden allgemein als revolutionierend und damit linksgerichtet betrachtet. Aber auch das rechte Lager lernte schnell, sie für seine Ziele zu nutzen“, sagt der Historiker. Nachdem die Konservativen durch ihre Zusammenarbeit mit den Nazis diskreditiert worden seien, hätten Christdemokraten auf die „Resistenz“ der katholischen Kirche im Dritten Reich verwiesen.

Auch die deutschen Medien waren keineswegs von der Linken dominiert, wie Livi in einem gemeinsamen Beitrag mit dem Historiker Dr. Nicolai Hannig von der Ludwig-Maximilians-Universität München schreibt. „Die 68er-Bewegung war von Anfang an eng mit den Medien verbunden. Aber das konservative Lager kam in den Medien ebenfalls zu Wort, sein Opfergestus war damit unbegründet“, erläutert Hannig.

Das Buch basiert auf einer Tagung des Exzellenzclusters mit jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Italien und Deutschland. Livi forscht im Cluster-Projekt A13 „Politische Moderne und Katholische Kirche in der ‚ersten Republik‘ Italiens: Die politische und kulturelle Debatte um die Novellierung des Konkordates“. (arn/vvm)

Hinweis: Massimiliano Livi, Daniel Schmidt, Michael Sturm (Hg.): Die 1970er Jahre als schwarzes Jahrzehnt. Politisierung und Mobilisierung zwischen christlicher Demokratie und extremer Rechter. Frankfurt/New York: Campus 2010, 29,90 Euro.