Religion vor Gericht
Neues Buch über "Religionskonflikte im Verfassungsstaat" und die Rolle der Medien
Das Kopftuch, die Mohammed-Karikaturen, der Ethikunterricht, rituelle Tierschlachtungen und der Status der „Zeugen Jehovas“: Den Streit um solche religiösen Themen untersuchen die Autorinnen und Autoren eines neuen Sammelbandes, den die Religionswissenschaftlerin Dr. Astrid Reuter aus dem Exzellenzcluster „Religion und Politik“ gemeinsam mit ihrem Bremer Kollegen Prof. Dr. Hans G. Kippenberg herausgegeben hat. „Religion mobilisiert, sie lässt kaum jemanden gleichgültig“, erläutert Reuter. In der Öffentlichkeit und vielfach auch vor Gericht werde leidenschaftlich um Religion gestritten. Die Medien verstärken diese Konflikte Reuter zufolge noch.
Die Autorinnen und Autoren des Bandes sind Geschichts-, Religions- und Rechtswissenschaftler, Soziologen und Philosophen aus Deutschland, Großbritannien, Israel und den USA. Sie untersuchen die Rolle des Rechts und der Medien in diesen aktuellen Auseinandersetzungen, gehen aber auch auf die historischen Grundlagen des Verhältnisses von Religion und Staat im modernen Verfassungsstaat ein.
Die Anlässe für Streitigkeiten um Religion sind laut Astrid Reuter vielfältig und erscheinen oft unbedeutend: „In den USA musste eine Schule im Dezember 2005 Essenspäckchen zurückrufen, weil auf ihnen ,Merry Christmas!‘-Wünsche zu lesen waren. Der Wal-Mart-Konzern sah sich hingegen im selben Jahr Diskriminierungsvorwürfen von christlicher Seite ausgesetzt, weil er seinen Kunden in der Vorweihnachtszeit lediglich ,Schöne Feiertage!‘ wünschte.“ Im Jahr darauf kam es laut Reuter in Großbritannien zu heftigen Debatten, weil Wirtschaftsunternehmen weihnachtliche Dekoration am Arbeitsplatz verboten – mit der Begründung, diese sei geeignet, Nicht-Christen zu beleidigen. Nicht selten, so Reuter, führe Streit um Religion vor Gericht.
Zweideutiges Verhältnis zum christlichen Erbe
„Wie diese Beispiele zeigen, kann die Präsenz religiöser Motive im öffentlichen Raum ebenso zu Streit führen wie ihre Verdrängung aus der öffentlichen Sphäre“, erläutert Reuter. Das verweise auf die Ambivalenz im Verhältnis freiheitlich verfasster Gesellschaften „westlicher“ Prägung zur Religion. Das politisch-rechtliche Modell dieser Gesellschaften stütze sich einerseits darauf, dass staatliches Handeln zumeist mühsam aus der religiösen Umklammerung befreit worden sei. Auf der anderen Seite beanspruchten sie ein einzigartiges religiöses Erbe als eines ihrer historischen Fundamente: das „christliche“, das neuerdings als „jüdisch-christliches“ bezeichnet und wieder vermehrt als historischer Bürge für die gesellschaftliche Ordnung in Anspruch genommen werde. Hierin sieht Reuter nicht zuletzt auch eine gereizte Reaktion auf „vitale islamische Lebensformen“, die damit ausgeschlossen werden sollen.
Astrid Reuter leitet im Exzellenzcluster das Projekt C23 „Religion in der verrechtlichten Gesellschaft. Rechtskonflikte und öffentliche Kontroversen um Religion in Deutschland im internationalen Vergleich“. Zu den Autoren des Bandes zählt auch der Jurist Prof. Dr. Fabian Wittreck, der im Exzellenzcluster das Projekt C4 „Geistliche Gerichtsbarkeit religiöser Minderheiten – Integrations- oder Segregationsfaktor“ leitet. Er schreibt über das Religionsrecht der Weimarer Verfassung und das Bonner Grundgesetz. (arn)
Hinweis: Astrid Reuter, Hans G. Kippenberg (Hg.): Religionskonflikte im Verfassungsstaat. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2010, ISBN-13: 978-3525540084 (428 Seiten).
In dem Sammelband geht es um die Fragen:
- Was kann das Rechtssystem leisten?
- Kann es überhaupt integrative Verfahren der Konfliktbewältigung bereitstellen und als Garant der Freiheits- und Gleichheitsordnung auftreten? Oder ist es selbst ein Konflikte auslösender Faktor?
- Bietet das Rechtssystem genügend Flexibilität, um auf die beschleunigten Wandlungsprozesse im religiösen Feld zu reagieren?
- Welche Konsequenzen haben Rechtskonflikte um Religion für die religionskulturelle und soziale Integration? Befördern sie Desintegrationsprozesse?
- Fungieren Gerichte als „Arenen“ religionskultureller Anerkennungskämpfe?
- Welche Rolle spielen die medialen Inszenierungen von Religionskonflikten in religionsrechtlichen und -politischen Wandlungsprozessen?
- In welchen Situationen eskalieren Religionskonflikte in Gewalt und unter welchen Bedingungen gelingt es, sie politisch beziehungsweise rechtlich zu kanalisieren?
Die Beiträge gliedern sich in zwei Teile: Im ersten Teil werden religions- und rechtshistorische sowie religions- und rechtssoziologische Sondierungen vorgenommen; im zweiten Teil werden ausgewählte Religionsrechtskonflikte und -kontroversen exemplarisch rekonstruiert und analysiert.
Erster Teil:
Christopher Clark aus Cambridge wirft einen Blick auf die Kulturkämpfe in Europa im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Als eine der Hinterlassenschaften dieser Auseinandersetzungen bezeichnet er den „epistemologischen Anti-Katholizismus“ des liberalen Konzepts der Moderne, der den Blick auf die spezifische Modernität des politischen Katholizismus verstelle und die Modernisierungseffekte der breiten katholischen Mobilisierung in dieser Zeit verkenne.
Fabian Wittreck aus Münster beschäftigt sich mit dem Zustandekommen der religionsrechtlichen Kompromissformeln der Weimarer Reichsverfassung sowie des Bonner Grundgesetzes. Er eröffnet neuen Perspektiven auf die religionsverfassungsrechtlichen Kontinuitätslinien zwischen Weimar und Bonn.
Hans Michael Heinig aus Göttingen führt diese Überlegungen weiter, indem er ein Element des Weimarer Kompromisses näher untersucht, der auch ins Grundgesetz Eingang gefunden hat: die Möglichkeit, Religionsgemeinschaften den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts zu verleihen.
Der 2010 verstorbene Winfried Brugger aus Heidelberg klassifiziert am Beispiel ausgewählter religionsrechtlicher Konfliktfälle verschiedener westlicher Verfassungsstaaten konkurrierende Modelle des Verhältnisses von Staat und Religionsgemeinschaften entlang eines idealtypischen Spektrums von Trennung, Gleichheit und Nähe.
Matthias Koenig aus Göttingen nimmt eine rechtssoziologische Sondierung gerichtlicher Auseinandersetzungen um Religion vor. Er untersucht, unter welchen Bedingungen religiöse Anerkennungskämpfe vor Gericht ausgetragen werden, wie sie entschieden werden und welche gesellschaftlichen Wirkungen von den gerichtlichen Entscheidungen ausgehen.
Volkhard Krech aus Bochum erörtert verschiedene gesellschaftstheoretische Ansätze zur sozialen Rolle von Konflikten allgemein und Religionskonflikten im Besonderen.
Zweiter Teil:
David Nirenberg aus Chicago beschäftigt sich mit der Regensburger Rede Benedikts XVI., die heftige Polemiken, aber auch gewalttätige Proteste auslöste. Ihm geht es um die europäische Dialektik von Glaube und Vernunft und ihre Inklusions- und Exklusionseffekte im Hinblick auf Judentum und Islam.
Nikola Tietze aus Hamburg untersucht die deutschen und französischen Debatten darüber, ob und wie in den Präambeln der Europäischen Grundrechts-Charta und des Verfassungsvertrags auf christliche oder allgemeine religiöse Traditionslinien Bezug genommen werden soll.
Mit deutsch-französischen Gemeinsamkeiten und Differenzen beschäftigt sich auch Astrid Reuter. Sie zieht asymmetrische Vergleichslinien zwischen dem Streit um die Einführung des Unterrichtsfaches „Ethik“ im Land Berlin und den Debatten, die im späten 19. Jahrhundert in Frankreich geführt wurden.
Hans G. Kippenberg aus Bremen erörtert am Beispiel der Konflikte um das Buch „Die Satanischen Verse“ von Salman Rushdie die Bedeutung des Straftatbestands der Blasphemie.
Hannes Langbein aus Rostock untersucht die gewalttätigen Auseinandersetzungen, zu denen es nach der Publikation von Karikaturen des Propheten Mohammed im September 2005 in der dänischen Tageszeitung „Jyllands Posten“ kam. In Deutschland bildeten sie im Jahr darauf den Hintergrund für die Absetzung der Mozart-Oper Idomeneo vom Spielplan der Deutschen Oper Berlin. Anhand dieser Kontroversen zeigt Langbein exemplarisch, wie der Diskurs vom „Dialog der Kulturen“ auf seinen Gegenpart – die Beschwörung eines „Kampfes der Kulturen“ – bezogen bleibt.
Hella Dietz aus Göttingen erweitert den Blick nach Osten: Sie rekonstruiert die Auseinandersetzungen um den klerikalistischen polnischen Sender „Radio Maryja“ und bettet diese in die Dynamik des gesellschaftlichen Umbruchs in Polen nach 1989 ein.
Steffen Rink aus Marburg zeichnet den langen Rechtsstreit der Zeugen Jehovas um ihre Anerkennung als Körperschaft öffentlichen Rechts nach.
Michael Wrase aus Berlin widmet sich den Herausforderungen, denen das Religionsverfassungsrecht angesichts wachsender religionskultureller Pluralität begegnet, am Beispiel des „Kopftuchstreits“.
Ein Beitrag von Shai Lavi aus Tel Aviv schließt den Band ab. Er zeigt am Beispiel der Rechtsstreitigkeiten um das rituelle Schächten durch Juden und Muslime, in welcher sensiblen Lage zwischen christlicher Tradition und jüdischer Geschichte Muslime in Deutschland nach 1945 um das Recht auf betäubungslose Schlachtung streiten. Sein Beitrag zeigt nach Ansicht der Herausgeber vielleicht am nachdrücklichsten die unauflösliche Spannung zwischen historischen Erfahrungen und Zukunftserwartungen, in der Religion in der Gegenwart konfliktiv und kontrovers verhandelt wird. (arn)