Ein Mythos und die ukrainische Präsidentschaftswahl
Münsteraner Historikerin erläutert Rolle des nationalen Mythos von der „Vormauer Europas“
Bei der Präsidentschaftswahl in der Ukraine am 7. Februar spielt nach Expertenmeinung ein historischer Mythos eine fast wahlentscheidende Rolle: Die bereits im Mittelalter entstandene Vorstellung von der ukrainischen Nation als „christliche Bastion“ und „Vormauer Europas“ werde im Wahlkampf politisch stark instrumentalisiert und ideologisiert, sagt Historikerin Dr. Liliya Berezhnaya, die am Exzellenzcluster „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) die „Festungs“-Ideologie der Ukraine erforscht.
Das von der erfolglosen „Orangene Revolution“ enttäuschte ukrainische Volk hatte im ersten Wahlgang im Januar mehrheitlich für Wiktor Janukowytsch und gegen Julija Timoschenko gestimmt. Bei der Stichwahl am 7. Februar gehe es jedoch auch um einen möglichen EU-Beitritt und die kontrovers diskutierte Frage der Westorientierung des Landes, sagt Berezhnaya. „In den aktuellen politischen, intellektuell-kulturellen und kirchlichen Debatten zur Europazugehörigkeit sowie zur religiösen und nationalen Identität steht dabei wieder einmal verstärkt der historische Mythos im Mittelpunkt.“
Mythos im Wahlkampf polemisiert
Laut der Historikerin begründen ukrainische Europabefürworter die Westzugehörigkeit des Landes vor allem im ukrainischen Mythos der „christlichen Bastion“. „Laut dieser These ist die Ukraine eben nicht Russland, sondern hat über Jahrhunderte hinweg die europäische Zivilisation gegen ‚asiatische Horden‘ verteidigt“, so Berezhnaya. Deshalb sei der antemurale christianitatis zum Zeitpunkt von Präsidentschaftswahlen und den Politikdebatten und Wahlkampfstrategien besonders wichtig.
Der in Osteuropa weitverbreitete Mythos tritt aufgrund der geschichtlichen und religiösen Eigenarten des Landes in der Ukraine besonders widersprüchlich auf und werde daher von verschiedenen Seiten polemisiert, sagt Berezhnaya. „In der Ukraine ist der Konflikt historischer Erinnerungskulturen noch längst nicht gelöst. Nicht selten wird die Idee der ‚letzten Bastion‘ gar so umgedeutet, als wiederhole die Ukraine in ihrer Geschichte den Leidensweg Christi“, so die Wissenschaftlerin. Wolle man die komplexen Debatten in Politik, Kirche und Gesellschaft zur Zeit der ukrainischen Präsidentschaftswahl verstehen, müsse man die besondere und komplexe Rolle des Christentums in der Geschichte des Landes kennen.
Die Historikerin Dr. Liliya Berezhnaya ist Expertin für die Geschichte und Religion Osteuropas. Sie erforscht das Thema der „ukrainischen Bastion“ im Rahmen des Exzellenzclusters „Religion und Politik“ der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. (han)