„Ketzerei hat das Christentum vorangebracht“
Historikerin Sita Steckel sprach in der Ringvorlesung über Häresie im Mittelalter
Über Inquisition und Ketzerei im Mittelalter kursieren nach Einschätzung der Münsteraner Historikerin Dr. des. Sita Steckel noch immer zu viele Klischees. „Viele Menschen haben nur die gewaltsame Unterdrückung jeglicher Abweichung durch Inquisition und Ketzerverbrennung im sogenannten dunklen Zeitalter vor Augen“, sagte die Expertin in der Ringvorlesung des Exzellenzclusters „Religion und Politik“. Das Thema Häresie müsse jedoch viel differenzierter gesehen werden, so die Historikerin. „Die Beschäftigung damit führt mitten in bewegte Debatten und große wie kleine Konflikte über die richtige politische und religiöse Ordnung der Gesellschaft.“ Die Ketzerei habe das Christentum sogar in seiner Entwicklung vorangebracht, und das lange vor Reformator Martin Luther.
Zur Häresie hatten laut Steckel nicht nur Päpste, Kardinäle und Bischöfe etwas zu sagen, sondern auch Juristen, Theologen, Stadträte und manchmal einfache Leute. Vor allem größere innerkirchliche Konflikte brachten eine „Kultur religiöser Argumentation“ hervor, „an der bald auch Laien, Personen niederen Standes und sogar Frauen teilnahmen“, wie die Wissenschaftlerin erläuterte. Als auffällig bezeichnete sie, „dass sich eine Kultur religiösen Protests gerade dort entfaltet hat, wo die rechtliche Verfolgung von Ketzerei besonders intensiv war.“
Häresievorwürfe gegen politische Gegner
Ketzer waren im Mittelalter keine gesellschaftliche Randerscheinung, sondern stets wichtig, um richtig und falsch im Glauben abzugrenzen, wie Steckel hervorhob. „Aus der geschichtswissenschaftlichen Perspektive ist Rechtsgläubigkeit schlichtweg die Richtung, die sich durchgesetzt hat.“ Dabei wurde die Entscheidung darüber, welcher Glauben der richtige ist, nach Meinung der Historikerin nicht nur durch die Religion, sondern auch durch rechtliche und politische Aspekte beeinflusst. „Die Verknüpfung dieser Bereiche ist schon im Mittelalter recht dynamisch. Und da Ketzerei eins der wenigen Verbrechen war, mit dem man Bischöfe und sogar Päpste absetzen konnte, ließen sich Häresievorwürfe beispielsweise sehr gut gegen politische Gegner instrumentalisieren.“
Im Zuge der Inquisition sei die Ketzerei systematischer und damit wissenschaftlicher betrachtet worden, sagte Steckel, und das liege auch an der Entstehung der Wissenschaften vom gelehrten Recht und von der Theologie. „Mehr ‚Wissenschaft’ bedeutet hier aber nicht unbedingt mehr Säkularität oder religiöse Toleranz“, fügte die Wissenschaftlerin hinzu. Im Rückgriff auf das römische Recht im Inquisitionsprozess sei beispielsweise die bislang strikt verbotene Folter erlaubt worden. In der Entwicklung des Umgangs mit Ketzern, so Steckel, zeige sich insgesamt ein Wechselspiel zwischen politischer Instrumentalisierung von Häresievorwürfen und systematischem Rechtsdenken, das wichtige Grundlagen für spätere Entwicklungen gelegt habe. (han)