Man sieht an diesen beiden Beispielen, dass auch scheinbar geringfügige Veränderungen der Textgestalt in metrischer Hinsicht erhebliche Konsequenzen zeitigen. Wie soll man hier entscheiden? Die gegenwärtige Editionsphilologie stützt sich in starkem Maße auf die mittelalterlichen Manuskripte. Die metrisch gestützten Emendationen sind demgegenüber stark ins Hintertreffen geraten. Wir wollen diesen Trend nicht grundsätzlich in Frage stellen – niemand möchte heute ein durch die Überlieferung nicht gedecktes nie hinzudichten –, aber doch zur Umsicht raten.
Mettke ist der einzige moderne Herausgeber, der sich in einem der hier diskutierten Beispiele ausführlich zu den metrischen Konsequenzen seiner editorischen Entscheidung geäußert hat. Solch begründete Entschlüsse muss man respektieren; es ist durchaus denkbar, dass Hartmann eine beschwerte Hebung auf den Artikel gelegt hat. Aus Sicht der Metrik würde man sich in solchen Zweifelsfällen einen Kommentar des Editors wünschen, wie Mettke ihn liefert.
Zweifel sind jedoch erlaubt; gerade vor dem Hintergrund des in E dokumentierten Textes scheint auch eine Lösung denkbar, die ohne willkürliche Konjekturen einen metrisch glatten Text ermöglicht. Letztlich gilt auch für diese Fall, was Kurt Gärtner zum ›Armen Heinrich‹ ganz allgemein festgestellt hat: „Die Textkritik des ›Armen Heinrich‹, eines der am meisten gelesenen Werke der höfischen Klassik, steht unter keinem günstigen Stern“ (Gärtner 2000, S. 103).
Literatur:
Gärtner 2000 = Kurt Gärtner: Spaltenreime in der Überlieferung des ›Armen Heinrich‹ Hartmanns von Aue. In: Septuaginta quinque. Festschrift für Heinz Mettke. Hrsg. von Jens Haustein, Eckhard Meineke und Norbert Richard Wolf. Heidelberg 2000. S. 103-110.
Gierach 1925 = Der arme Heinrich von Hartmann von Aue. Überlieferung und Herstellung. Hrsg. von Erich Gierach. 2. verbesserte Auflage Heidelberg 1925 (Germanische Bibliothek. 2. Abteilung 3).
Lachmann 1926 = Wolfram von Eschenbach. Sechste Ausgabe von Karl Lachmann. Berlin 1926 [Nachdruck 1960].
Mertens 2004 = Hartmann von Aue. Gergorius. Der arme Heinrich. Iwein. Hrsg. und übersetzt von Volker Mertens. Frankfurt/M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters 6) (Bibliothek deutscher Klassiker 189).
Mettke 1974 = Hartmann von Aue. Der arme Heinrich. Hrsg. von Heinz Mettke. Leipzig 1974.
Paul 1998 = Hermann Paul: Mittelhochdeutsche Grammatik. 24. Auflage überarbeitet von Peter Wiehl und Siegfried Grosse. Tübingen 1988 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte. A. Hauptreihe 2).
Rautenberg 1993 = Hartmann von Aue. Der arme Heinrich. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Übersetzt von Siegried Grosse. Hrsg. von Ursula Rautenberg. Stuttgart 1993 (Universal-Bibliothek 456).
Zwierzina 1903 = Kurt Zwierzina: Zum Reimgebrauch Rudolfs von Ems. In: PBB 28 (1903). S. 425-453.