„Glück“ und „Wohlergehen“ als Basis für moralische Normen?
Beschreibung
Zwar hat die Frage nach dem Glück in den philosophischen Debatten der jüngeren Vergangenheit eine ‚Renaissance’ erlebt, doch ist dabei der Relevanz dieser Frage für die Begründung von Normen in der Ethik allgemein, in der Bioethik und im Biorecht nur selten nachgegangen worden. Ob die Bezugnahme auf das menschliche Glück/Wohlergehen (bio)ethische Normen begründen kann, ist umstritten. Dabei ist unschwer zu erkennen, dass hier eine Reihe ethischer Grundsatzprobleme aufgeworfen, zugleich aber auch zahlreiche Anwendungskontexte tangiert sind. Sowohl diesen Grundsatz- als auch den Anwendungsproblemen soll in drei Richtungen nachgegangen werden.
(a) Metaethische Aspekte
Außer in den verschiedenen Varianten des Utilitarismus scheint die Bezugnahme auf das menschliche Glück/Wohlergehen in der modernen Moralphilosophie nur eine Nebenrolle zu spielen; dies gilt auch für die Bioethik. Die in Deutschland besonders einflussreichen kantisch orientierten Ansätze konvergieren mit den in den angelsächsischen Ländern dominierenden liberalen Positionen in einem Punkt: Der Respekt vor Personen und die Abwehr von Beeinträchtigungen der individuellen Selbstbestimmung nehmen den zentralen Platz ein. Die Bioethik ist daher wenn schon nicht ausschließlich, so doch weitgehend eine Ethik der (individuellen) Autonomie. Es ist demgegenüber eine Ausgangsthese des hier skizzierten Forschungsfeldes, dass – ungeachtet dieser Dominanz der Autonomie – die Bezugnahme auf das menschliche Glück/Wohlergehen eine ‚subkutane’, zum Teil indirekte Rolle in vielen moralphilosophischen Diskursen spielt. In der Bioethik bleibt diese Bezugnahme oft schon allein deshalb unsichtbar, weil in ihrem Bereich ‚Gesundheit’ als ein selbstverständlicher, nur in einigen Randbereichen problematischer Grundwert gilt; Gesundheit aber ist natürlich ein wichtiges Element menschlichen Glücks/Wohlergehens.
Die Aufgabe der metaethischen Analyse wird es sein, zunächst eine Art von ‚Landkarte’ der verschiedenen Formen von Bezugnahme auf das menschliche Glück/Wohlergehen in ethischen Theorien und Diskursen zu erarbeiten, sie zu analysieren und auf ihre unausgesprochenen Prämissen zu befragen. Dabei werden konzeptionelle Fragen ethischer Theoriebildung zu erörtern sein, z.B. die Frage nach dem Verhältnis von negativen (verbietenden) und positiven (gebietenden) Elementen ethischer Theorien.
In diesem Zusammenhang werden sich verschiedene Bezüge zu den anderen Forschungsperspektiven ergeben. Mit Blick auf die Analyse der Ethik des Rechts zeichnet sich ab, dass eine Berücksichtigung von glücksbezogenen Argumenten im Recht Fragen hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Rechtstradition aufwirft, soweit das Recht vornehmlich dem Schutz vor Interventionen Dritter oder des Staates dient; zugleich aber ist unübersehbar, dass glücksbezogene Argumente auf der Ebene der Legitimation von Recht und Politik eine wichtige Rolle spielen.
Zugleich bilden glücksbezogene Normenbegründungen eine Variante des Konsequentialismus (vgl. Schwerpunkt "Konsequentialismus-Debatte") – oder anders: Sie bilden eine der Möglichkeiten, konsequentialistische Ethiktheorien inhaltlich zu füllen. Bislang wird diese Möglichkeit vor allem von utilitaristischer Seite wahrgenommen. Zu diskutieren ist, ob es auch andere, nicht-utilitaristische Varianten eines glücksorientierten Konsequentialismus geben kann (beispielsweise durch den Verzicht auf das Maximierungsgebot). Sollte sich ein tragfähiges Konzept für eine glücksbezogene Normenbegründung ermitteln lassen, so wäre dies jedenfalls zugleich ein Argument zugunsten konsequentialistischer Theorien in der Ethik.
(b) Anthropologische Aspekte
Da Menschen ‚von Natur aus’ nach Glück streben, sind Fragen nach dem Glück/Wohlergehen von jeher eng mit anthropologischen Fragen verbunden gewesen. Deutlich wird dies vor allem in der antiken Ethik. Wenn dieser Zusammenhang von Ethik und Anthropologie in der neueren Ethik gelockert wurde, so liegt einer der Gründe dafür in der radikalen Individualisierung und Subjektivierung des Glücksbegriffs, wie sie in Kants Definition von „Glückseligkeit“ als des Zustands eines vernünftigen Wesens, „dem es im ganzen seiner Existenz alles nach Wunsch und Willen geht“, zum Ausdruck kommt.
Gegen eine solche Individualisierung und Subjektivierung können jedoch gewichtige Einwände erhoben werden. Auch wenn es schwerfallen dürfte, einen vollständig objektiven Glücksbegriff plausibel zu machen, lassen sich durch Rückgriff auf eine Konzeption von ‚menschlicher Natur’ relevante objektive Merkmale von Glück und Wohlergehen angeben. Unter Rückgriff auf antike Vorbilder ist in der jüngeren Vergangenheit daher verschiedentlich versucht worden, einen Zusammenhang von Anthropologie und Moralphilosophie zu knüpfen. Dabei fällt allerdings auf, dass diese Versuche über das programmatische Stadium kaum hinausgelangt sind.
Zu den Aufgaben des hier vorgestellten Schwerpunktes wird es daher gehören, die Reichweite und Grenzen anthropologischer Überlegungen zur Begründung eines objektiven Verständnisses von menschlichem Glück/Wohlergehen zu untersuchen. Dazu gehören zum einen systematische Überlegungen über das Verhältnis von Anthropologie und Ethik, zum anderen aber auch die Verarbeitung empirischer Befunde (vgl. unten). Natürlich soll dabei nicht der Anspruch erhoben werden, eine elaborierte Theorie zu entwickeln, in der dieser Zusammenhang vollständig realisiert ist; konzeptionelle Vorarbeiten dazu sollen aber geleistet werden.
Die Anschlusspunkte zum Schwerpunkt "Natur und Handlungsmacht" liegen auf der Hand. Die in dessen Rahmen zu verfolgende Fragestellung richtet sich auf ein Verständnis von (menschlicher) Natur, das normativ gehaltvoll ist und damit grundlegende Rechte und Pflichten im Bereich der Bioethik zu begründen vermag; und weiter auf die Möglichkeiten, aus der Erfahrung von Wohlergehen und Leiden ethisch zu lernen. Diese Fragestellung hat unmittelbare anthropologische Relevanz und schließt an die hier geplanten Überlegungen an, überschneidet sich teilweise mit ihnen.
(c) Materialer Teil
Das Nachdenken über menschliches Glück/Wohlergehen steht heute in mehrfacher Hinsicht unter anderen Bedingungen, als es in der philosophischen Tradition der Fall war. Eine dieser Bedingungen besteht darin, dass die damit zusammenhängenden Fragen inzwischen auch zu einem intensiv bestellten Feld empirischer Forschung geworden sind. Von Seiten der Individual- wie auch der Sozialpsychologie, der Soziologie und der Ökonomie liegen eine Fülle von empirischen Untersuchungen über das menschliche Glück vor, die von philosophischer Seite bisher kaum zur Kenntnis genommen wurden. Besonders hervorgehoben sei hier nur die in den vergangenen Jahren entstandene neue Subdisziplin „positive Psychologie“, die sich – theoretisch wie praktisch – auf die Faktoren konzentriert, die das menschliche Wohlergehen fördern.
Im Rahmen dieser Forschung wurden Thesen bestätigt, die bereits in der antiken Ethik eine wichtige Rolle spielten. Damit soll nicht der Eindruck einer nahtlosen Übereinstimmung zwischen empirischer Glücksforschung und antiker Ethik erweckt werden; denn es gibt auch eine Reihe von Divergenzen vor allem auf grundlegender begrifflicher Ebene. Wichtig scheint zunächst lediglich zu sein, dass die philosophische Reflexion über das menschliche Glück/Wohlergehen heute auf einen Fundus empirischer Forschungen zurückgreifen kann, der sie, wenn er angemessen und kritisch genutzt wird, vor dem Vorwurf einer arm-chair-philosophy zu schützen vermag.
Die hier zu bearbeitende Aufgabe ist zweifacher Natur. (a) Zum einen bietet sich die empirische Glücksforschung als Quelle für ein empirisch informiertes Verständnis von menschlichem Glück/Wohlergehen an. Es ist zu prüfen, inwieweit die Ergebnisse dieser Forschung neues Licht auf die alte Frage nach allgemein-objektiven und individuell-subjektiven Elementen des menschlichen Glücks werfen. Gibt es kulturinvariante Faktoren des Glücks und wie weit reichen sie? (b) Zum anderen ist zu prüfen, inwieweit sich aus diesen empirischen Befunden Schlussfolgerungen für die Formulierung (bio)ethischer Normen ziehen lassen. Hier geht es also um die ‚materiale’ Basis bioethischer Normbildung und Normbegründung. In diesem dritten Projektteil ergeben sich Verbindungen zu den drei anderen Forschungsfeldern überall dort, wo es um die Diskussion von Normbegründungen geht.
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Konsequentialistische Ethik: Grundsätzliche Fragen
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