Die Ethik des Rechts und ihre In- und Exklusion der Moral
Beschreibung
(a) Die Eigenlogik des Rechts
Die zentralen Gegenstände der Medizin- und Bioethik sind rechtlich verfasst. Jeder Versuch, eines dieser Felder durch normative Vorgaben wirksam, d.h. verhaltensstabil zu steuern, muss letztlich die Gestalt des Rechts annehmen und sich seiner Institutionen bedienen. Moral und Ethik (als Reflexionsform der Moral) können dies selbst nicht leisten; normativ gehaltvolle Botschaften können nur in der Sprache des Rechts gesellschaftsweit zirkulieren.
Ein bioethischer Diskurs, der seine (ebenso legitime wie notwendige) Selbstbezüglichkeit übersteigen und praktisch werden will, muss sich deshalb mit rechtlicher Normenbegründung in Beziehung setzen. Das Rechtssystem verfügt jedoch über seine eigenen moralischen Ressourcen: Die Rechtsordnung der Bundesrepublik z.B. hat mit den Prinzipien der Menschenwürde, der grundrechtlich garantierten Individualfreiheiten, der Gleichheit, des Rechtsstaats, der Demokratie und des Sozialstaats den formalen und materialen Gerechtigkeitsgehalt des Vernunftrechtsdenkens und damit der neuzeitlichen Moral des Rechts als Prinzipien des positiven Rechts inkorporiert. Diese Prinzipienebene tritt mit dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf, das gesamte Recht zu überformen, und gibt rechtlicher Interpretation die regulative Idee und den Maßstab vor, einen kohärenten Rechtfertigungszusammenhang im Lichte der involvierten Rechte und Prinzipien zu bilden.
Weil das Rechtssystem insoweit normativ geschlossen ist, als es sich „gegen die unbeständige Flut und Ebbe moralischer Kommunikationen“ differenzieren und sich von diesen anhand rechtseigener Kriterien unterscheiden muss (Luhmann 1993), müssen sich medizinethische Argumente, die im Rechtssystem nicht nur als Rauschen wahrgenommen werden sollen, als anschlussfähig ausweisen. In jedem Fall ziehen normative Argumente, die sich nicht als genuin rechtliche verstehen und darstellen lassen oder die gar mit normativen Grundentscheidungen oder Institutionen des Rechtssystems kollidieren, erhebliche Rezeptions- und Implementationsprobleme nach sich. Dies gilt umso mehr, als die Legitimität des Rechts – seit Kant – immer auch mit der Frage der Legitimität staatlichen Zwangs verknüpft ist.
(b) Normative In- und Exklusionsmechanismen für den bioethischen Diskurs
Der Forschungsschwerpunkt will deshalb der Frage nachgehen, welche Vorgaben die Ethik des Rechts gibt, d.h. welche spezifischen normativen In- und Exklusionsmechanismen der westliche (d.h. insbesondere, aber nicht nur der deutsche) Rechtsdiskurs für die Medizinund Bioethik bereit hält. Der Forschungsansatz ist zunächst ein genuin rechtstheoretischer und -philosophischer. Methodisch zielt er in einem ersten Schritt darauf, mit interpretativen und analytischen Mitteln jene normativen Grundstrukturen des (heutigen) Rechts herauszuarbeiten, mit denen sich ethische Argumente, die rechtliche Relevanz erlangen wollen, in Beziehung setzen müssen.
Von den hier erzielten Ergebnissen ausgehend werden sodann in einem zweiten Schritt die Überlegungen der moralphilosophischen Partnerthematiken ("Glück und Wohlergehen", "Konsequentialismus-Debatte", "Natur und Handlungsmacht", "Zeitliche Dauer und zeitliche Fristen") aufgegriffen und im Hinblick auf Voraussetzungen und Grenzen ihrer Kompatibilität hin analysiert. Im Vordergrund stehen hier angesichts der nicht-, ja letztlich antiutilitaristischen Struktur jedes Systems subjektiver Rechte und insbesondere der deutschen Grundrechtsordnung die stark begrenzte Anschlussfähigkeit konsequentialistischer Prämissen und Argumente (Schwerpunkt "Konsequentialismus-Debatte") und die Frage, inwieweit sich die formale, pluralistische – und insoweit philosophisch in erster Linie mit kantischen Konzepten rekonstruierbare – Freiheitsethik etwa der deutschen Verfassung an die materiellen Kriterien des „Glücks“ und des „Wohlergehens“ der Bürger (Schwerpunkt "Glück und Wohlergehen") als Basis auch für rechtliche Normen zurückbinden lässt. Zugleich steht das Recht heute − in exemplarischer Weise etwa in der rechtlichen und rechtswissenschaftlichen Reaktion auf die Herausforderungen durch die Humangenetik − vor der ungelösten Frage, inwieweit sich die normative Unverfügbarkeit des humanum auch vor dem Hintergrund eines grundsätzlich positiven (d.h. immer veränderbaren) Rechts noch oder wieder aus einem „natürlich Vorgegebenen“ (Schwerpunkt "Natur und Handlungsmacht") ableiten lässt.
Die Erweiterung der Forschungsperspektiven der Gruppe durch die Untersuchung von Prinzipien und Verfahren der politischen Regulierung moralischen Dissenses und moralischer Konflikte in der Biopolitik erweitert die hier zu verfolgende Problemstellung schließlich um einen weiteren Aspekt der dem Recht eigentümlichen Spannung von Faktizität und Geltung − um die Frage nämlich, inwieweit (gerade in dem regelmäßig unmittelbar auf die normativen, d.h. rechtlichen Basisdimensionen des Gemeinwesens rekurrierenden biorechtlichen Diskurs) mit einer resistenten Eigendynamik und Eigenlogik des Rechtssystems auch gegenüber den politischen Willensbildungsprozessen zu rechnen sein wird.
(c) Rechtstheoretische Voraussetzungen
Hierbei ist nicht zu übersehen, dass die Prämisse eines normativ geschlossen Rechtssystems, dessen Interpretation zudem auf die Idee eines kohärenten Rechtfertigungszusammenhangs im Lichte der involvierten Rechte und Prinzipien verwiesen ist, selbst sowohl mit empirischen als auch mit normativen Gründen kritisiert werden kann. Deren Diskussion wird ihrerseits Gegenstand dieses Forschungsschwerpunkts sein.
So steht zunächst außer Frage, dass das Recht schon zum Verständnis und zur Kritik seiner eigenen leitenden Begriffe und Konzepte regelmäßig auf die analytische Moralphilosophie angewiesen ist, wie etwa die häufige, aber meist unreflektierte Verwendung des Wertbegriffs im Recht zeigt.
Vor allem sind die leitenden normativen Grundprinzipien der Rechtsordnung (Würde, Freiheit, Gleichheit) essentially contested concepts – komplexe wertende Begriffe, die einen kontextabhängigen Inhalt besitzen, über dessen adäquate Interpretation im Licht normativer Gründe gestritten werden muss (und gestritten werden kann). Deutlich wird dies, wie der Antragsteller Gutmann in einer im Erscheinen befindlichen Monographie entwickelt hat, beispielsweise daran, dass der zentrale Begriff heutiger (westlicher) Rechtssysteme, das subjektive Recht, und mit ihm das Verständnis der jeweiligen Rechtsordnung als solcher in der rechtstheoretischen Reflexion wie in der dogmatischen Steuerung der Rechtsanwendung sowohl konsequentialistisch als auch nichtkonsequentialistisch ausbuchstabiert werden kann und ausbuchstabiert wird. Obgleich jedenfalls in der deutschen Rechtsordnung nur die zweite Alternative kohärent erscheint, hat dieser Grundsatzstreit erhebliche Auswirkungen darauf, welche Arten von metaethischen Prämissen und von materialen ethischen Aussagen an den Rechtsbegriff und die ihm zugrundeliegende Vorstellung rechtlicher Handlungsfreiheiten sinnvoll angeschlossen werden können.
Deutlich wird der Grundsatzcharakter des Streits über die normtheoretischen Grundlagen der Rechtsordnung aber auch etwa an der fundamentalen Verunsicherung, die in den letzten Jahren die Rechtswissenschaft hinsichtlich der Struktur und der Funktion des Menschenwürdebegriffs als „oberster Konstitutionsnorm“ des deutschen Rechts erfasst hat. Hinzu kommt, dass in der zeitgenössischen Rechtstheorie kein Mangel an Ansätzen besteht, die die immanente Widersprüchlichkeit und Unbestimmtheit des rechtlichen Regelsystems im allgemeinen und der Rechtsanwendung im besonderen betonen oder, regelmäßig unter Rekurs auf Motive des Poststrukturalismus und der Philosophie der Dekonstruktion, die paradoxe Natur „des Rechts“ bzw. zentraler dogmatischer Begriffe behaupten und auf einen infiniten Regress alternativer Interpretationsmöglichkeiten rechtlicher Normen verweisen.
Das „Übersetzungsproblem“ von medizinischer Ethik in Recht verschärft sich schließlich noch dadurch, dass es „das Recht“ bisher nicht gibt, sondern nur Rechtsordnungen im Plural, die zudem unterschiedlich strukturiert sind, so dass die normative Analyse im Ergebnis auf beiden Seiten (Ethik und Recht) mit einer Pluralität von Ansätzen konfrontiert ist. Im Zusammenhang mit der Herausbildung supra- und transnationaler Rechtsregime im europäischen Kontext stellt sich die Frage nach gemeinsamen normativ-ethischen Grundlagen eines europäischen Rechtsdenkens indes besonders dringlich. In dieser Perspektive, und nicht zuletzt auch mit Blick auf die internationale Dimension des Blickfeldes der Kolleg- Forschergruppe wird in besonderer Weise danach zu fragen sein, wieweit bestimmte Konzepte wie „Menschenwürde“ und bestimmte Verständnisweisen subjektiver Grundrechte – gerade in ihrer die Rezeption des bioethischen und biopolitischen Diskurses filternden, steuernden und limitierenden Funktion – sich möglicherweise als höchst voraussetzungsreiche Produkte (nur) der spezifisch deutschen Rechtsentwicklung darstellen.
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