Normative Bedeutung und Funktion zeitlicher Dauer und zeitlicher Fristen
Beschreibung
Unter dieser Überschrift steht schließlich eine weitere Forschungsperspektive auf das gemeinsame Themenfeld, die in der Bio- und Medizinethik bisher noch nicht systematisch verfolgt worden ist, deren Dringlichkeit sich aber nicht zuletzt in der gegenwärtigen medizinethischen Diskussion der Bindungswirkung spiegelt, die in der Vergangenheit getroffenen Patientenverfügungen zuerkannt werden kann. Die Aktualität dieser Forschungsperspektive lässt sich anhand ihrer Verbindung zu den übrigen beschriebenen Forschungsfeldern erläutern.
(a) Die Notwendigkeit der Frage nach der normativen Bedeutung zeitlicher Dauer und zeitlicher Fristen ergibt sich zunächst aus dem Umstand, dass menschliches Glück und menschliches Wohlergehen, deren Eignung als Begründungsbasis für moralische Normen im Allgemeinen und für bioethische Normen im Besonderen im Zentrum eines der Forschungsschwerpunkte steht, offensichtlich als zeitlich limitierte Phänomene aufgefasst werden müssen, d. h. als Phänomene, deren Vorliegen grundsätzlich nur im Hinblick auf einen bestimmten Zeitraum konstatiert und ggf. empirisch überprüft werden kann.
Darüber hinaus kommen Ethiken des konsequentialistischen Typs, deren Eignung als Begründungsbasis für ethische Entscheidungen im Allgemeinen und für medizinethische Entscheidungen im Besonderen in einem weiteren Forschungsschwerpunkt auf dem Prüfstand steht, nicht ohne empirische und normative Annahmen über die wahrscheinliche zeitliche Frist, innerhalb deren wahrscheinliche Folgen und Nebenfolgen eintreten werden, und über die wahrscheinliche zeitliche Erstreckung wahrscheinlicher Folgen und Nebenfolgen aus. Das Maximierungsprinzip lässt sich nämlich nicht plausibel anwenden ohne Bezugnahme auf Zeiträume der Realisierung von Gütern (und wohl auch nicht ohne Bezugnahme auf Fristen, innerhalb derer die Realisierung von Gütern erwartet werden kann); und es liegt überdies nahe, dass eine Axiologie, wie sie einer konsequentialistischen Ethik zugrunde liegt, ihrerseits bereits normative Annahmen über die gebotene Mindestdauer der Realisierung bestimmter Güter bzw. über die maximalen in Kauf zu nehmenden Fristen bis zum Eintritt einer Güterrealisierung impliziert. Bei Fragen der Priorisierung im Rahmen der Allokation knapper lebensrettender medizinischer Güter unterscheiden sich konsequentialistische und deontologische Ansätze schließlich nicht zuletzt in Bezug auf die Länge des Zeitraums, auf den sie hinsichtlich der zu berücksichtigenden Fälle dringend hilfsbedürftiger Patienten abstellen.
(aa) Vor diesem Hintergrund gilt es zunächst generell nach der normativen Bedeutung des Umstands zu fragen, dass menschliches Glück und die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Interessen zeitlich limitierte Phänomene sind. Überprüft werden muss insbesondere, ob sich moralisch begründete Mindeststandards hinsichtlich der gesellschaftlich zu ermöglichenden zeitlichen Dauer der Realisierung bestimmter Güter (beispielsweise des Gutes ‚Gesundheit’) postulieren lassen. Wenn dies der Fall sein sollte, könnte sich die antikonsequentialistische Skepsis gegenüber der Anerkennung eines unparteilichen und überpersönlichen Aggregationsprinzips bei der Folgenbewertung und eines Maximierungsprinzips hinsichtlich der Realisierung von Gütern jedenfalls nicht auf die zeitliche Begrenztheit menschlichen Glücks und die zeitliche Begrenztheit der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und Interessen berufen.
Vor allem aber ließen sich normative Anforderungen an die Ausgestaltung eines gesellschaftlichen Systems der Gesundheitsversorgung, wie sie gegenwärtig vielfach formuliert und diskutiert werden, unter einem Gesichtspunkt evaluieren, der offenkundig relevant, in der Medizinethik bisher aber nur wenig beachtet worden ist. So ließe sich die medizinethische Unterbestimmung eines Phänomens korrigieren, dem die Gesundheitsökonomie gleichsam von Haus aus Beachtung schenkt. Außerdem wäre für die das Forschungsinteresse der Kolleg-Forschergruppe leitende Frage nach den Grundlagen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik ein normatives Datum (unter anderen) gewonnen, anhand dessen sich unterschiedliche Konzepte der Begründung medizinethischer Entscheidungen auf ihre Angemessenheit hin befragen lassen.
(bb) Unmittelbar berührt die Frage nach der normativen Bedeutung zeitlicher Dauer und zeitlicher Fristen jenen Forschungsschwerpunkt, der klären soll, inwieweit der westliche und näherhin der deutsche Rechtsdiskurs Konklusionen der normativen Medizin- und Bioethik einschließt oder exkludiert. Rechtsansprüche sind nämlich im positiven Recht in vielfältiger Weise als zeitlich limitierte Ansprüche konzipiert. Das gilt nicht nur für Zivilrecht und öffentliches Recht; vielmehr ist selbst der strafgesetzlich verbriefte Strafanspruch des modernen Rechtsstaates nur in Ausnahmefällen der Verjährung entzogen. Und auch Erlaubnisse sind vielfach zeitlich begrenzt. Insofern kommt dem Faktum des Verstreichens von Zeit positivrechtlich unzweifelhaft normative Bedeutung zu.
An diese Feststellung knüpft sich die Frage, ob die Ansprüche oder Erlaubnisse limitierende Bedeutung, die das Faktum des Verstreichens von Zeit im positiven Recht besitzt, nur der gebotenen Rechtsökonomie geschuldet ist oder sich die zeitliche Begrenzung von Rechtsansprüchen und Erlaubnissen auch durch metapositive (z.B. gerechtigkeitsmoralische oder anthropologische) Gründe motivieren lässt: Gibt es eine der positivrechtlichen analoge normative Bedeutung des Verstreichens von Zeit in Bezug auf moralische Ansprüche und moralische Erlaubnisse? Und falls ja: In welcher Weise tragen unsere moralischen Überzeugungen und Intuitionen einerseits sowie die philosophische Moraltheorie andererseits ihr Rechnung? Lassen sich beispielsweise die Fristenregelungen des geltenden Rechts auf vorpositive Normen zurückführen? Sind konkrete Fristen überhaupt einer metapositiven Begründung fähig? Und falls ja: Legen metapositive Überlegungen womöglich eine Veränderung der bestehenden Fristen nahe? Falls nein: In welcher Weise lassen sich, wenn überhaupt, positivrechtliche Fristen, die bio- und medizinpolitische Materien betreffen, rechtsimmanent rechtfertigen?
Fragen wie diese stellen sich nicht nur im Hinblick auf Fristenregelungen des Lebensschutzes, sondern auch im Hinblick auf die Möglichkeit einer Fristenregelung für Allokationsprobleme, wie sie de facto etwa der Vorschlag einer Altersgrenze für die Kostenerstattung für bestimmte medizinische Leistungen vorsieht, der dem Individuum eine bestimmte mit der Geburt beginnende Frist einräumt, innerhalb deren es für die Erhaltung seiner Gesundheit auf gesellschaftlichen Support rechnen kann. Von besonderer Bedeutung dürfte die hier skizzierte Forschungsperspektive, die die Ebene des geltenden Rechts sowohl zum Ausgangs- und Bezugspunkt nimmt als auch im Hinblick auf ein seinsollendes Recht transzendiert, zudem im Hinblick auf die Frage nach den normativ angemessenen Schutzfristen für Biopatente sein, für deren Beantwortung auch die rechtsphilosophische Reflexion der Begründungen des Urheberrechts wichtige Anregungen gibt.
(b) Dieser Forschungsschwerpunkt schließt auch die Frage nach der normativen Funktion zeitlicher Fristen ein. Denn die für das positive Recht charakteristische Befristung von Ansprüchen und Erlaubnissen (und im Einzelfall auch einmal von Verboten) lässt sich – so die hier einschlägige Arbeitshypothese – laut einem weiteren Forschungsscherpunkt auch als ein Verfahren der politischen Regulierung moralischer Konflikte begreifen. Dabei wird es jedoch im Einzelfall zu prüfen sein, ob eine einschlägige Rechtsnorm das Resultat einer bloßen Konfliktregulierung ist oder ob sie gegebenenfalls eine moralische Bedeutung des Verstreichens von Zeit widerspiegelt, welche unter anderem durch die Rekonstruktion natürlicher Entwicklungsstufen und durch ein graduelles Verständnis natürlicher Prozesse sichtbar gemacht werden könnte, wie es der Forschungsschwerpunkt "Natur und Handlungsmacht" ins Auge fasst.
Wenn diese Arbeitshypothese richtig ist, wird es im Hinblick auf die Zielsetzung der Kolleg-Forschergruppe unter anderem darauf ankommen, die spezifische Leistungsfähigkeit der zeitlichen Befristung von rechtlichen Ansprüchen und Erlaubnissen als eines Instruments der politischen Regulierung von moralischen Konflikten zu analysieren, die daraus erwachsen, dass unterschiedliche Teilgruppen einer pluralistischen Gesellschaft vor dem Horizont der von ihren jeweiligen Mitgliedern gemeinsam geteilten ethischen Traditionen für die von ihnen zur Bewertung biomedizinischer Optionen herangezogenen, miteinander bestenfalls bedingt vereinbaren Wertüberzeugungen und moralischen Normen jeweils unbedingte Geltung reklamieren.
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