Prinzipien und Verfahren der politischen Regulierung moralischen Dissenses und moralischer Konflikte in der Biopolitik
Beschreibung
Mit diesem ersten Satellitenprojekt versucht die Forschergruppe, den Begriff der „Biopolitik“, den sie im Titel trägt, mit Inhalt zu erfüllen und ihr Forschungsfeld für sozial- und politikwissenschaftliche Fragestellungen zu öffnen.
(a) Zum weiteren Forschungsgebiet
Die politische Regulierung biomedizinischer Fragen ist in aller Regel durch tiefgreifende normative Dissense und Konflikte gekennzeichnet, in denen die Parteien für die von ihnen verfochtenen moralischen oder ethischen Normen unbedingte Geltung reklamieren. Einvernehmliche politische Lösungen sind unter diesen Umständen kaum zu erzielen. Mehrheitspolitische Entscheidungen riskieren Legitimitätskrisen und verweigerte Folgebereitschaft. Kompromisse werden als Kompromittierung der reklamierten moralischen Normen empfunden. Nichtentscheidung wird als Entscheidung in der Sache betrachtet, die entweder den jeweils geltenden status quo oder die Folgen gesellschaftlicher oder technologischer Entwicklungen sanktioniert. Auch politiktheoretisch werden die normativen Grundlagen pluraler Demokratien prekär. Die bislang dominierende Antwort der politischen Theorie auf die Herausforderung grundlegender moralischer Pluralität, ihre Verweisung in den Bereich des Privaten nach dem Modell religiöser Freiheit und Toleranz, gerät in die Krise. Denn dieser vermeintlich neutrale, Freiheit und Selbstbestimmung verbürgende Umgang mit moralischem Dissens wird zunehmend als Durchsetzung einer partikularen moralischen Tradition bzw. als einseitige, weil allein auf Permissivität setzende Entscheidung in der Sache begriffen. Diese politischen und politiktheoretischen Herausforderungen bei der Regulierung biopolitischer Materien potenzieren sich noch einmal auf internationaler Ebene. Doch trotz dieser immensen politischen wie politiktheoretischen Herausforderungen erweist sich die bisherige theoretische Fundierung des politischen Umgangs mit moralischer Pluralität im Feld der Biopolitik nach wie vor als Desiderat.
Die bioethische Debatte hat den moralischen Pluralismus erst spät als grundlegende Herausforderung bioethischer Reflexion thematisiert (Engelhardt 1989) und dann nur unzureichend und selektiv auf die entsprechenden Diskussionen im Feld der politischen Theorie rekurriert. Bestand eine erste Reaktion noch in der Annahme eines den Dissens übergreifenden moralischen (Minimal-)Konsenses, so sind in den letzen zehn Jahren eine Reihe von neuen Vorschlägen für Prinzipien und Verfahren des Umgangs mit moralischer Pluralität in der Biopolitik entwickelt worden.
Umgekehrt hat sich der politiktheoretische Diskurs bis auf wenige Ausnahmen kaum mit den spezifischen Herausforderungen moralischer Pluralität auf dem Feld der Biopolitik beschäftigt. Im Vordergrund standen eher Fragen des Umgangs mit kultureller und religiöser Pluralität. Neben klassischen liberalen Positionen haben in der jüngeren politiktheoretischen Debatte vor allem zwei Theorietraditionen Beiträge zu den neu aufgebrochenen begründungstheoretischen Fragen der Verfassung pluraler Demokratien geleistet. Deliberative Ansätze setzen anders als liberale Ansätze nicht auf die Privatisierung moralischer Differenz, sondern auf einen öffentlichen argumentativen Austrag moralischer Konflikte. Pluralistische Ansätze nehmen ihren Ausgangspunkt bei der These von einer inkommensurablen, inkompatiblen und irreduziblen Diversität von Wertorientierungen oder Lebensweisen, gelangen auf dieser Basis jedoch zu höchst unterschiedlichen Prinzipien politischer Ordnung. Ein liberaler Pluralismus macht das Faktum eines irreduziblen Pluralismus zur neuen, Autonomie ersetzenden Rechtfertigungsbasis von individueller Freiheit und der Beschränkung politischer Herrschaft. Ein nichtliberaler Pluralismus bestreitet dagegen, dass allein liberale Gesellschaften ausreichende Voraussetzungen für die Entfaltung einer Vielfalt von Lebensweisen und moralischen Orientierungen bieten, und setzt statt dessen auf einen immer neu auszuhandelnden modus vivendi, der die Koexistenz unterschiedlicher Gruppen mit je spezifischen Wertvorstellungen erlauben soll. Ein dritter Strang der pluralistischen Theoriefamilie ersetzt das liberale Ideal der Herrschaftsfreiheit und die damit verbundene Orientierung am Konsens durch das Ideal der Minimierung von Herrschaft und das Plädoyer für verhandelte Lösungen. Statt der für liberale Ansätze typischen vorgängigen Beschränkung des politischen Prozesses in der Sachdimension setzt dieser politische Pluralismus auf die Begrenzung der Durchschlagskraft von Politik in der Sozialdimension (Gewaltenteilung) und die Sicherung ihrer Vorläufigkeit und Reversibilität in der Zeitdimension (z. B. sunset legislation).
Sowohl die bioethische als auch die politiktheoretische Debatte berücksichtigen bisher nur unzureichend die Erfahrungen mit biopolitischen Beratungsgremien und alternativen Formen biopolitischer Konfliktbearbeitung. So zeigen Untersuchungen von nationalen ad hoc- Kommissionen, Ethikräten oder Enquete-Kommissionen, dass diese Gremien in strittigen moralischen Fragen in der Regel den Dissens unter Experten, ‚stakeholdern’ und öffentlicher Meinung, wenn auch in rationalerer Form, reproduzieren. Solche Gremien können jedoch dann zu einhelligen Empfehlungen gelangen, wenn sie explizit nach Kompromisslösungen suchen. Ähnlich skeptisch fällt die Bilanz der Bearbeitung von moralischen Konflikten durch mittlergestützte Verhandlungen oder Diskursverfahren aus. Auch in solchen Verfahren lässt sich in der Regel weder ein Konsens erzielen noch der in deliberativen Ansätzen erwartete umfassende Transformationsprozess bei Überzeugungen oder Positionen beobachten. Allerdings vermögen diese Verfahren bei den Beteiligten den Modus der Konfliktaustragung zu zivilisieren und die Bereitschaft zu begrenzter praktischer Kooperation zu wecken.
(b) Zum Forschungsschwerpunkt innerhalb der Arbeitsgruppe
(aa) Das Forschungsvorhaben will der Frage nachgehen, in welchem Ausmaß die in der bioethischen und politiktheoretischen Diskussion verfochtenen Prinzipien und Verfahren für den politischen Umgang mit moralischer Pluralität die moralische Pluralität in der Biopolitik zu berücksichtigen und zu verarbeiten vermögen. Zu diesem Zweck sollen die bisher weitgehend getrennt verlaufenden Diskurse der Bioethik und der politischen Theorie sowie die empirische Erforschung von biopolitischen Beratungsgremien und alternativen Formen einer biopolitischer Konfliktbearbeitung aufeinander bezogen werden. Dabei muss nicht zuletzt geprüft werden, ob bzw. inwieweit Gegenstände und Konfliktstrukturen der Biopolitik spezifische Anforderungen an Prinzipien und Verfahren für den politischen Umgang mit moralischer Pluralität stellen.
Mit Blick auf die Prinzipien ist vor allem von Interesse, welches Ausmaß an normativer Übereinstimmung trotz moralischer Pluralität als erforderlich angesehen wird, welche Qualität diese Übereinstimmung haben muss, auf welche konkreten Gegenstände sich die erforderliche Übereinstimmung erstreckt und wie die Grenzen anerkennenswerter moralischer Pluralität bestimmt werden. Deliberative Ansätze etwa scheinen durch ihre restriktive Interpretation der nach dem Prinzip der Reziprozität geforderten Vorbringung wechselseitig akzeptabler Rechtfertigungsgründe das Ausmaß der Inklusion moralischer Divergenz erheblich zu beschränken. Nichtliberale pluralistische Ansätze haben demgegenüber bislang nicht zureichend geklärt, wie sich in diesem Modell die Minimalbedingungen politischer Koexistenz begründen und die Stabilität der modi vivendi sicher stellen lassen. Geht man davon aus, dass das Potential zur Inklusion moralischer Pluralität in einem inversen Verhältnis zur Bestimmung des Umfangs erforderlicher normativer Übereinstimmung steht, stellt sich die Frage, wie schmal der Bereich normativer Übereinstimmung ausgestaltet werden kann, ohne dass liberaldemokratische ‚politische Gesellschaften’ ihren freiheitlichen Charakter verlieren.
Mit Blick auf die Verfahren biopolitischer Entscheidungsfindung und Konfliktbearbeitung setzen insbesondere deliberative und pluralistische Ansätze immer weniger darauf, dass sich dort Konsens erzielen lässt, sondern plädieren für verhandelte oder Kompromisslösungen. Allerdings ist bisher noch völlig ungeklärt und unerforscht, welcher Art die Kompromisse sein müssen, damit sie ausreichende Chancen haben, hingenommen oder gar akzeptiert zu werden, sowie welcher Verfahren und Institutionen es bedarf, auf welche Kommunikationsorientierungen und -modi man in diesen Verfahren und Institutionen setzen muss sowie welche Randbedingungen gegeben sein müssen, um Kompromisslösungen des geeigneten Typs regelmäßig oder doch mit hoher Wahrscheinlichkeit zu produzieren. Die Analyse der Chancen, Bedingungen und Formen von Kompromissen in Fällen von tiefgreifendem moralischem Dissens erweist sich daher als weiteres Desiderat.
(bb) Auch dieser Forschungsschwerpunkt ist auf vielfache Weise mit den anderen thematischen Untergliederungen des Gesamtvorhabens einer Beschäftigung mit theoretischen Grundfragen der Normenbegründung in Medizinethik und Biopolitik verknüpft. Eine erste Schnittstelle mit dem Schwerpunkt "Die Ethik des Rechts" bildet die Frage nach der Kapazität bzw. den strukturellen Grenzen von Recht und Politik, sich auf die gewachsene moralische Pluralität moderner Gesellschaften einzustellen. Eine zweite Schnittstelle wird durch den Umstand konstituiert, dass jeglicher Vorschlag für pluralitätsfeste normative Prinzipien und Verfahren der politischen Regulierung moralischer Konflikte in der Biopolitik sich auch der Frage nach der Kompatibilität mit den historisch konstituierten moralischen Ressourcen und der Logik des Rechts zu stellen hat.
Ein wesentlicher Bezug zu den Schwerpunkten "Glück und Wohlergehen", "Konsequentialsmus-Debatte" und "Natur und Handlungsmacht" besteht darin, dass Prinzipien und Modelle des politischen Umgangs mit moralischer Pluralität in der Biopolitik der (exemplarischen) Prüfung bedürfen, in welchem Ausmaß sie mit theoretischen Traditionen der Reflexion bioethischer Fragen kompatibel sind. Umgekehrt hängt die Funktionsfähigkeit von Prinzipien und Modellen des politischen Umgangs mit Pluralität letztlich auch davon ab, in welcher Weise konkurrierende theoretische Traditionen der Normbegründung in der Bioethik ihrerseits die Situation einer grundlegenden moralischen Pluralität verarbeiten. Die Frage nach dem funktionalen Beitrag einer zeitlichen Befristung von rechtlichen Regelungen zur Bewältigung moralischer Konflikte und ihre Spannung zur von vielen Konfliktparteien reklamierten unbedingten Geltung von Normen bildet schließlich ein zentrales gemeinsames Interesse mit dem Schwerpunkt "Zeitliche Dauer und zeitliche Fristen".
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