Die Konsequentialismus-Debatte im Spiegel moderner Bioethik
Beschreibung
Konsequentialistische Ethiktheorien sind zugleich prominent und umstritten – in Grundlagen-Debatten ebenso wie in der Bioethik. Zu diesen Theorien gehören, neben dem viel kritisierten klassischen Utilitarismus, zahlreiche andere Varianten, die vornehmlich in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden, so der Satisficing-Konsequentialismus, der Konsequentialismus mit Akteur-Prärogativen oder der Gerechtigkeits-Konsequentialismus.
Ein unstrittiges Merkmal der konsequentialistischen Familienzugehörigkeit ist, dass Handlungen und andere Gegenstände moralischer Bewertung ausschließlich nach Maßgabe ihrer Folgen beurteilt und ihnen keine intrinsischen right making features zugestanden werden. Strittig aber ist bereits, wie sich "Folgen" und damit rein folgen-orientierte Ethiken exakt eingrenzen lassen. Und noch strittiger ist, in mehrfacher Hinsicht, die normative Plausibilität dieser Theorien. Kontrovers sind die konsequentialistische Grundstruktur (sind Folgen alles?), die zugrunde gelegte Wertelehre (welche Folgen sind ethisch relevant?) und die Verrechnung von Folgen, wenn diese in unterschiedlichen Dimensionen liegen oder unterschiedliche Adressaten betreffen (wie ist Folge x für A und B gegenüber Folge yz für C und D zu veranschlagen?).
In diesem Forschungsprojekt geht es darum, für den Konsequentialismus neuere Ergebnisse ethischer Grundlagenarbeit mit den Ergebnissen kontextualisierter Bioethik-Analysen in Bezug zu bringen und sie füreinander fruchtbar zu machen, um eine Reihe wichtiger Fragen zu beantworten:
(1.) Lässt sich der Respekt vor der persönlichen Selbstbestimmung (Autonomie) von Individuen – wie er in der modernen Bioethik eine zentrale Rolle spielt – innerhalb einer konsequentialistischen Theorie kohärent begründen? Diese Frage ruft systematische Überlegungen dazu auf den Plan, wie genau Autonomie zu konzipieren ist und was ihren besonderen Wert ausmacht. Diese (immer wieder neu zu führende) Debatte muss sich einerseits von den in der theoretischen Ethik und der Moralpsychologie entwickelten neueren Auffassungen und andererseits von Bioethikdebatten um Grenzen und Proble-matik von Selbstbestimmung inspirieren lassen.
(2.) Lässt sich dem Einwand der Gerechtigkeits-Blindheit, der gegenüber dem klassischen Utilitarismus zu Recht erhoben wird, innerkonsequentialistisch begegnen? Hierbei geht es um die für einen plausiblen Konsequentialismus essentielle Frage nach der grundsätzlichen Subsummierbarkeit von Fairness (wie sie in gerechten Verteilungsmustern oder der Berücksichtigung moralischer Individualrechte zum Ausdruck kommt) unter die ethisch relevanten "Folgen" einer Handlung. Während die einen dies für weitgehend unproblematisch halten, sehen andere Autoren unüberbrückbare Schwierigkeiten beim Versuch einer "Verrechnung" von Werten und Rechten mit ihrer je unterschiedlichen axiologischen Semantik.
(3.) Lässt sich für Handlungsalternativen, die verschiedene Personen oder Personengruppen betreffen, rechtfertigen, dass sie ceteris paribus nach Maßgabe eines Effizienzkriteriums bewertet werden, das auf interpersonellen Nutzensummen und interpersonellen Nutzenvergleichen basiert?
In den ethischen Grundlagendebatten ist diese Problematik vor allem in der sogenannten Taurek-Debatte der 1990er Jahre (do numbers count?) verhandelt worden. In den Debatten um medizinische Verteilungsgerechtigkeit angesichts knapper Ressourcen beginnt sie heute eine konkrete Rolle zu spielen – einmal mehr als eine Debatte um ein Konstitutivum des ethischen Konsequentialismus.
(4.) Das Postulat der Nutzenmaximierung über Personengrenzen hinweg ist auch im Kontext gesteuerter Fortpflanzung Gegenstand ethischer Kontroversen. Hier geht es um die Frage, ob es ethisch gerechtfertigt, ja sogar ceteris paribus ethisch besser wäre, ein glückliches statt eines anderen unglücklicheren Kindes zur Welt zu bringen, auch wenn der relative Glückszugewinn niemandem persönlich zugerechnet werden kann, sondern sich nur im kontrafaktischen Vergleich ergibt. Befürworter berufen sich auf das zuerst von Derek Parfit explizierte Prinzip der non-person-affecting (NPA) values, während einige Kritiker just hierin einen entscheidenden Grund für die Ablehnung konsequentialistischer Theorien sehen.
(5.) In den Debatten um die Zulässigkeit von Sterbehilfe wird häufig eine kategorische normative Grenze postuliert, auf deren einer Seite die so genannte passive und indirekte Sterbehilfe, auf deren anderer Seite Suizidbeihilfe und die sogenannte aktive Sterbehilfe fallen. Zur argumentativen Untermauerung wird oft das Prinzip der Doppelwirkung herangezogen, dem zufolge bestimmte ergebnisgleiche Handlungen auf dem Boden unterschiedlicher intrinsischer Dignität und unterschiedlicher Zweck-Mittel-Folgen auch unterschiedlich zu bewerten seien. Konsequentialisten können diese Rechtfertigung kaum plausibel finden und haben verschiedene Versuche unternommen, die Plausibilität der Doppelwirkungslehre direkt oder indirekt in Frage zu stellen. Auch diese Debatte gilt es kritisch und systematisch aufzuarbeiten.
Der philosophische Beitrag in der Kolleg-Forschergruppe besteht darin, wesentliche Fronten in den (bio)ethischen Debatten um die Plausibilität konsequentialistischer Theorien zu identifizieren, systematisch zu analysieren und einen argumentativen Standpunkt zu beziehen.Veranstaltungen
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